25 Jahre Lacrimosa. Was mit Angst begann und zu Einsamkeit führte, sich in Sehnsucht suhlte und schließlich in einer Revolution mündete – daraus geht nun Hoffnung hervor. Und hoffen darf man beim aktuellen Werk von Lacrimosa, die sich zum Anlass ihres Jubiläums wieder ganz besonders ins Zeug gelegt haben. Wohin führt uns die musikalische Reise dieses Mal? Und wo begann sie noch gleich? Welche Poster hingen damals an der Wand? Wollten wir auch alles wissen und haben uns Tilo geschnappt, um ihn in Erinnerungen schwelgen zu lassen.
Auf Hoffnung hast du dir ein fast 60-köpfiges Orchester ins Studio geholt – damit ist es das größte und aufwändigste Werk eurer bisherigen Geschichte, richtig?
TILO WOLFF: Zum 25-jährigen Jubiläum war das das Mindeste. Viele Bands bringen zu einem Jubiläum eine „Best of“-Scheibe und stoßen damit all die wirklichen Fans, die über die Jahre alle Platten gesammelt haben, vor den Kopf und belohnen diejenigen, die sich bisher nie wirklich mit der Band auseinandergesetzt haben und jetzt nur blind zugreifen müssen. Ein „Best of“-Album ist wie eine Pauschalreise: nix denken, einfach mitlaufen. Ich möchte mich aber an diesem Punkt mit dem neuen Album bei unserem Publikum bedanken, und deshalb dieser Aufwand!
Auf Hoffnung findet man wieder diese typische Rahmung, bestehend aus einem beginnenden und abschließenden, jeweils sehr langen Stück, das zu einem gewissen Grad Intro- beziehungsweise Outrocharakter hat – warum findet sich das bei euch so oft?
TILO WOLFF: Musikhören ist wie eine Reise. Man lässt sich entführen. Zumindest in meinem Verständnis. Man kann das ganz gut mit Filmen vergleichen. Ein Kinofilm hat einen Vorspann, der den Zuschauer bereits in die Welt einführt, in der später eine Geschichte erzählt wird. Man holt den Zuschauer ab und führt ihn behutsam in diese andere Welt. Das braucht Zeit. Und da wir mehr und mehr gewohnt sind, uns keine Zeit zu nehmen, ist so ein bewusst langer Einstieg in ein Album eine klare Ansage: „Lass los, beruhige Dich, entspanne Dich, schalte ab!“ Wer das nicht kann oder will: Finger weg!
Alle Lacrimosa-Alben sind bisher mit einem Konstrukt, welches aus einem einzigen Wort besteht, betitelt. Warum ist es dieses Mal die Hoffnung – übrigens die Bedeutung meines Namens, danke also für die Widmung …?
TILO WOLFF: (lacht) Das ist ja schön! Das Wort „Hoffnung“ verbirgt viel mehr, als man im ersten Moment vermuten mag. In unserem Sprachgebrauch ist „Hoffnung“ etwas Positives und zudem etwas – nahezu – Phantastisches, Unreales. Aber in Wirklichkeit könnte kein Mensch auch nur einen Tag ohne Hoffnung überleben. Die Hoffnung, dass die Speisen, die wir zu uns nehmen, uns am Leben erhalten, die Hoffnung, dass der Arbeitsplatz erhalten bleibt, die Hoffnung, dass der Partner uns auch morgen noch liebt … alles, jeder Gedanke, den wir fassen, ist getrieben von unserer Hoffnung. Im Gegenzug schwingt mit der Hoffnung eine schreckliche Angst und Verzweiflung mit, denn Hoffnung ist keine Gewissheit, Hoffnung ist oft auch völlig verkehrt und irreführend. Hoffnung ist unser Lebensraum, den wir uns selbst erschaffen. Womit wir diesen anfüllen und wohin wir diesen treiben, ist individuell. So kann Hoffnung zu einem lebenslangen Martyrium, zu einer täglichen Hölle werden, aber auch zum Himmel auf Erden.
Ist es inhaltlich eine logische Fortsetzung der Revolution?
TILO WOLFF: Gewissermaßen. Nach der Revolution, dem Umsturz folgt die Hoffnung, auf den Ruinen etwas Neues, anderes und vielleicht Besseres aufbauen zu können. Davor hatten wir das Album Sehnsucht. Ohne Sehnsucht gibt es keine Vision, kein Bestreben für Veränderung. So führt also die Sehnsucht zur Revolution, der dann die Hoffnung folgt.
Was lässt dich persönlich, besonders in schlechten Zeiten, hoffen?
TILO WOLFF: Mein Glaube! Und das nicht nur in schlechten, sondern auch in guten Zeiten. Wobei dies mehr als eine Hoffnung ist. Der Glaube ist für mich eine Gewissheit. Innerhalb dieser Gewissheit hoffe ich – um das „Hoffen“ noch einmal zu bemühen –, dass meine Bemühungen gut und für mich und meine Mitmenschen segensreich sind.
Und was lässt dich verzweifeln?
TILO WOLFF: Die Selbstsucht vieler Menschen, die sich zum Beispiel auch darin äußert, dass man resistent gegen jegliche Horizonterweiterung geworden ist, die nicht unmittelbar die persönliche Beschränktheit als höchstes Gut preist.
Auf dem Song Unterwelt stellst du dein Unbehagen bezüglich einer bestimmten Person(engruppe) dar. Auf wen beziehst du dich?
TILO WOLFF: In erster Linie bezieht sich der Text auf eine konkrete Person – wie damals auch schon Feuer oder Copycat –, im Weiteren aber auf Menschen, die keine Grenzen kennen und nicht verstehen, bis wohin man in seinem Verhalten gehen kann und ab wann man diese Grenze überschreitet. Wieder die Selbstsucht: diese Menschen sehen nur sich selbst und ihre persönlichen Bedürfnisse. Alles andere entgeht ihrem Blick.
Das Cover zeigt eine Nahaufnahme des Harlekins – und er guckt neutral beziehungsweise nachdenklich, auf jeden Fall nicht hoffend. Was willst du uns damit sagen?
TILO WOLFF: … was uns zurückführt zu der Frage: „Was ist Hoffnung?“ Blickt er wirklich nicht hoffend? Blickt er vielleicht traurig, verzweifelt, nachdenklich – wie du sagst –, oder was liegt in seinen Augen? Im Grunde hast du recht, wenn du sagst, er blickt neutral, denn der wahre Ausdruck seines Blicks liegt in dem, was wir in ihm sehen wollen, was wir in ihn hineininterpretieren. Wenn ich mir das Album anhöre und einen Titel wie Mondfeuer höre, wirkt sein Blick unterschwellig traurig auf mich, als wolle er mir andeuten, dass seine Hoffnung gestorben ist. Höre ich Keine Schatten mehr, bekommt sein Blick etwas Funkelndes, ich sehe, wie die Hoffnung in ihm aufkeimt.
Hat er eigentlich einen Namen?
TILO WOLFF: Nein. Dazu ist er mir zu nahe …
So, nun lehnen wir uns zurück und lassen mal die letzten 25 Jahre Revue passieren. Gab es diesen einen magischen Moment, bei dem es, wenn du anders abgebogen wärst, Lacrimosa heute nicht geben würde? So eine Art Butterfly Effect?
TILO WOLFF: Ja, den gab es. Wer weiß, ob beim Andersabbiegen vielleicht doch irgendwo Lacrimosa wieder auf mich gewartet hätte – vielleicht ist das meine Bestimmung –, aber im Sommer 1990 gab es ein Erlebnis, das mich direkt und konsequent in die Arme der Musik gezogen hat. Eigentlich eher eine beiläufige Sache, aber der Weg war für mich auf einmal klar. Deswegen: wahrscheinlich wäre ich der Musik in keinem Fall entkommen …
Weil es so schön war, erzähl bitte noch mal, wie du Anne das erste Mal gesehen hast, wie du sie kennengelernt hast und wie dann das eine zum anderen kam …
TILO WOLFF: Ich war auf der Suche nach einer Sängerin – hatte ja auf den ersten Alben mit verschiedenen Sängerinnen experimentiert –, und als wir dann 1993 mit Two Witches auf Tour gingen, haben wir gemerkt, wie gut unsere Stimmen zusammenpassen. Wenn man sich zum Beispiel Kaleidoskop auf dem neuen Album anhört, singen wir am Schluss eine Passage unisono, und man kann keinen Unterschied zwischen unseren Stimmen ausmachen. Das führt sogar zu lustigen Geschichten: In einer Rezension zu Revolution bemängelte ein Redakteur meine gekünstelt feminine Stimme, diesen Song singt aber Anne!
Haha – und neben solch „täglichen“ Glanzpunkten, welches sind bisher die Highlights deiner Karriere?
TILO WOLFF: Sicherlich das neue Album Hoffnung. Dieses Projekt hat alles, was wir bislang gemacht haben, an Intensität und Hingabe übertroffen – ich dachte nicht, dass das überhaupt möglich sei –, und diese Zeit wird für mich immer in besonderer Erinnerung bleiben. Weitere Highlights sind die eben erlebten Jubiläumskonzerte in Deutschland, die weltweiten Tourneen – zum Beispiel in China vor einem Publikum zu stehen, das die deutschen Texte mitsingt, ist nahezu einzigartig –, und ich freue mich sehr über die Wertschätzung, die Lacrimosa als einer der Bands entgegengebracht wird, die Anfang der 1990er Jahre die Gothic-Szene mit neuem Leben befeuert haben, wie auch die internationale Wertschätzung als Mitbegründer des Gothic Metal und des Symphonic Metal.
Gab es auch Entscheidungen, die du später bereut hast?
TILO WOLFF: Klar! Wir treffen täglich unzählige Entscheidungen, und wenn man – wie in meinem Fall – kein Management, keine externe Plattenfirma oder irgendjemanden im Boot hat, der für einen mitentscheidet, muss man alles alleine entscheiden, und da kann es auch einmal Fehleinschätzungen geben. Eine davon mag sein, dass ich nicht unter Pseudonym arbeite. Ich bin kein Mensch, der gerne im Mittelpunkt steht – deswegen hatte es ja auch drei Jahre nach der Gründung Lacrimosas gedauert, bis ich mich zum ersten Mal auf eine Bühne gestellt habe –, nur komme ich aus dieser Nummer heute nicht mehr raus. Dumm gelaufen …
Ach herrlich, der allererste Auftritt. Erzähl doch noch mal bitte, wo das war, wie viele Leute dort waren und was du dachtest, bevor du auf die Bühne gingst?
TILO WOLFF: Das war 1993 in Leipzig, überraschenderweise war es ziemlich voll. Ich dachte, ich müsste terben, bevor ich auf die Bühne bin. Es gibt eine Aufnahme von diesem Auftritt auf der DVD The Live History. Dieses Konzert werde ich nie vergessen!
Weißt du auch noch, wann du deinen ersten Song geschrieben hast?
TILO WOLFF: Ja, das war Seele in Not, ich habe damals noch bei meinen Eltern gewohnt und habe die Nummer dort an ihrem Klavier gemacht.
Wie haben sie eigentlich damals reagiert, als der Gothic-Stil an dir äußerlich zu sehen war?
TILO WOLFF: Nicht so gut …
Welche waren die ersten Bands, die du verehrtest? Von wem hattest du Poster an den Wänden?
TILO WOLFF: Das waren Joy Division, Bauhaus und Christian Death, vor allem aber Bauhaus. Das war – und ist – für mich der Inbegriff des Gothic!
Ha, da fällt mir ein: als ich ganz klein war, hatte ich immer die Vorstellung im Kopf, ein Tilo Wolff sitzt morgens in seinem schwarzen Schlafanzug da und isst völlig schwarzes Müsli. Wie oft wirst du heutzutage – jetzt auch von Leuten, die älter als zehn Jahre sind – mit solchen Klischees konfrontiert?
TILO WOLFF: (lacht) Was für eine geniale Vorstellung! So ein schwarzes Müsli würde ich ja gerne mal essen! Ja, da gab es schon viele Klischees und Bezeichnungen. Von „der Gothic-Prinz“ über „der Herr der insternis“ bis zu „the God of Pain“. Aber so langsam, nach 25 Jahren, hat man anscheinend gemerkt, dass es bei Lacrimosa um die Musik und nicht um mich geht, und dass die Musik so finster gar nicht ist – zumindest nicht immer. Trotzdem finde ich es immer höchst amüsant, zu hören, was für Vorstellungen sich manche Menschen machen.
Wie hast du die Gothic-Szene vor 25 Jahren in Erinnerung?
TILO WOLFF: Eine kleine, aber eingeschworene Gemeinschaft, in der die Abgrenzung zur Gesellschaft und das Ausleben der Werte der Szene größere Priorität hatten, was im Einzelnen gute und schlechte Folgen haben konnte. Es gab ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl, aber auch etwas weniger Toleranz, die Regeln waren sozusagen strenger und enger. Musikalisch gab es hingegen viel mehr Spielraum, und meistens ging es deutlich extremer, dunkler und tiefer zur Sache. In den Clubs hatten die Songs selten einen durchgehenden Beat, getanzt wurde auf alles, was schräg und intensiv war.
Wie siehst du die Zukunft der Szene? Hat sie überhaupt noch eine?
TILO WOLFF: Das kommt darauf an, was man von der Szene erwartet. Wenn ich mir zum Beispiel das WGT anschaue, stellt sich für mich die Frage überhaupt nicht. Dort sieht man diese wunderschöne und sich gegenseitig inspirierende Vielfalt an Menschen, die ein friedliches Miteinander in großartiger Weise ausleben. Ich erlaube mir kein Urteil über die Entwicklung der Szene, sondern versuche mit Lacrimosa meinen persönlichen Beitrag zu leisten, um den Fortbestand der Szene zu unterstützen.
Apropos „Wave-Gotik-Treffen“, kannst du dich noch an dein erstes erinnern?
TILO WOLFF: Ja, allerdings! Das war sehr beeindruckend. Damals gab es das WGT gerade einmal zwei, drei Jahre, und dort auftreten zu dürfen, war – und ist es bis heute – etwas Besonderes für mich. Dieses Festival und Lacrimosa haben eine lange und schöne Verbindung.
Ich erinnere mich, dass du dort vor wenigen Jahren Bresso zum allerersten Mal gespielt hast – gigantisch. Warum nicht vorher schon mal? Immerhin erschien der Song 1992 …
TILO WOLFF: Es gibt einfach Titel, die so aufwühlend sind, dass sie den Rest eines Konzertes belasten könnten. Wenn ein Song zu viel Platz einnimmt und die gesamte restliche Show beeinflusst, ist das nicht so schön für all die Menschen, denen dieser eine Song nicht so viel bedeutet und die sich auf ein gesamtes Konzert gefreut haben. Deswegen bin ich mit diesen wenigen Titeln etwas vorsichtig.
Vor einer Weile hatten wir ein Doppelinterview mit dir und MONO INC.. Mit welcher „jungen“ Band würdest du das gerne wiederholen?
TILO WOLFF: Eyes Shut Tight und Black Moon Secret!
Was empfindest du als Christ eigentlich, wenn dir auf Festivals oder in Magazinen satanistische Bands begegnen?
TILO WOLFF: Die meisten spielen das ja nur, weil es beim Publikum gut ankommt. Auf der anderen Seite muss man auch klar differenzieren. Der satanistische Ansatz in der Szene hat seinen Ursprung in der Auflehnung amerikanischer Bands gegen die Scheinheiligkeit der amerikanischen Gesellschaft. Hat also einen gesellschaftlichen, politischen und nicht religiösen Ursprung. Das haben viele Europäer icht verstanden, weil wir eine andere Kultur haben und die Religion nicht mit dem gesellschaftlichen Standing verknüpft ist.
Ich erinnere mich an einen befreundeten Engländer, der im Auto inbrünstig einen Lacrimosa-Song mitsang. Als ich ihn fragte, ob er denn verstehe, was er da singe, meinte er, er verstehe die Sprache nicht, aber er versteht das Gefühl, die Schwingung, die der Song enthält. Kann man sich mit dieser Aussage euren immensen internationalen Erfolg erklären?
TILO WOLFF: Vielleicht, wobei ich mir diesen Erfolg gar nicht erklären will. Ich will ihn genießen und nicht ergründen. Aber sicher, Musik ist ja bekanntlich eine internationale Sprache, und Lacrimosa ist eben keine Musik von der Stange, das spüren die Menschen, egal wo sie leben.
Oktober, 2015, ORKUS, Nadine Ahlig
This page is also available in: Russian