Der Startschuss für das neue und sehr aufwendige Projekt von Lacrimosa fiel bereits im Mai 2005: man hatte beschlossen die komplette Welttournee in Bild und Ton festzuhalten und das nicht nur auf der Bühne, sondern auch dahinter. Nun ist es endlich so weit, anlässlich der Ankündigungen zur bevorstehenden Veröffentlichung der schon seit langem heiß ersehnten neuen Lacrimosa DVD sowie der zweiten Live-CD nach neun Jahren wird man automatisch neugierig und kann es kaum abwarten. Um schon mal im Vorfeld einen Teil der Neugierde zu befriedigen stellte sich Tilo Wolff zum Interview.
Hallo Tilo, wie geht es Dir und Anne?
TILO WOLFF: Hallo, abgesehen von einer kleinen Erkältung die ich im Moment habe, von der Anne, soweit ich weiß, verschont geblieben ist, geht es uns natürlich entsprechend gut, weil nun das Projekt an dem wir seit zwei Jahren arbeiten endlich zum Abschluss kommt. In zwei Tagen haben wir ja in Leipzig unsere Premiere und am 29.06.07 wird es dann erscheinen.
Ihr habt Eure Welttournee mitgefilmt, jedoch soll die DVD kein reiner Konzertfilm sein, sondern vielmehr eine Dokumentation, was habe ich mir darunter vorzustellen?
TILO WOLFF: Die DVD wird sich in vieler Hinsicht von bisherigen Veröffentlichungen unterscheiden und ist, wie Du schon gesagt hast, nicht nur ein Konzert wo mit möglichst großem Aufwand mitgefilmt wurde, sondern wir haben eine ganze Tournee mitgefilmt. In verschiedenen Ländern haben wir immer wieder Kamerateams mit unserem Kamerateam, was wir dabei hatten, koordiniert und dann entsprechend Bild und Ton natürlich auch auf mehreren Spuren aufgezeichnet, so dass man also aus verschiedenen Konzerten immer wieder Eindrücke bekommt. Das alles ist eingebettet in übrige Aufnahmen, weil die Kamera uns die ganze Zeit verfolgt hat. Also egal wo wir waren, ob im Proberaum oder im Bus, im Flugzeug, beim Sightseeing, die Kamera war immer mit dabei und hat auch immer gefilmt.
Die Filmfirma Roax Films, die den Film gedreht hat, haben halt als Außenstehende so zu sagen eine Dokumentation über Lacrimosa gemacht. Einerseits und andererseits eine Dokumentation über eine Band, die weltweit unterwegs ist. Was heißt es auf Tour zu sein, was heißt es in so vielen verschiedenen Ländern bei so vielen verschiedenen Kulturen zu spielen. Wenn dann am Freitag die Premiere ist, dann wird auch diese Premiere wieder mitgefilmt. Deswegen sind die Premiere und die Veröffentlichung der DVD einen Monat auseinander, weil das Material was jetzt bei der Premiere gefilmt wird, wird dann in den Film rein geschnitten und so zu sagen als Film im Film zu sehen sein wenn man dann die DVD anschaut.
Wie kam es zu dieser Idee? Waren da Fernsehserien wie „Die Osbournes“ oder „Big Brother“ ausschlaggebend?
TILO WOLFF: Also ne, das mit Ozzy ist zwar super anzuschauen, aber damit hat es sehr wenig zu tun, weil es ja kein Privatleben ist. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man Menschen beim Esstisch sich irgendwie anschreien sieht oder ob man sieht, wie ne Band eine Autogrammstunde gibt und was sie dort so alles erleben mit dem jeweiligen Publikum. Wir werden so oft gefragt, wie ist das denn wenn ihr in anderen Ländern spielt? Wie sind denn die Menschen dort so drauf? Und da man das immer sehr schwer erklären kann hatten wir uns entschieden, warum mal nicht so einen Film machen wo man es wirklich mal sieht wie die Menschen halt eben so drauf sind. Vor allem wo man sieht, wie die Menschen auf der anderen Seite der Welt auf eine Band die hauptsächlich in deutscher Sprache singt reagieren. Eine Band, die vornehmlich in einem Genre stattfindet, was es teilweise gar nicht gibt. Also als wir in China aufgetreten sind, dort gibt es keinen Gothic.
Wir waren die erste Gothic-Band die dort aufgetreten ist, respektive sowieso erst die dritte westliche Band nach Rolling Stones und Back Eyed Peas, die in China auftreten durfte und dem zu Folge ist es natürlich interessant zu sehen, wie reagieren solche Menschen auf eine Band wie Lacrimosa. Was passiert da, was geht da ab. Z. B. war es interessant, eine kleine Anekdote aus China, in Peking kamen nach dem Konzert Menschen zu mir und gaben mir Ringe mit Hakenkreuzen und T-Shirts u.s.w. Ich sagte die ganze Zeit, ich will das nicht bitte geht weg damit. Und die meinten dann: nein, bitte verletz nicht meine Gefühle, das wollen wir euch geben. Ich dachte, das kann doch wohl nicht angehen, dass die mir irgendwelche Nazirelikte schenken. Ich wusste nicht was das sollte und ich fragte was das bedeuten sollte mit diesem Symbol. Das ist das Symbol unseres Landes, angeblich. Ich wollte dann wissen ja wo seid ihr denn her? Wir sind aus der Mongolei angereist und das ist das Symbol von Dschingis Khan. Dschingis Khan hat dieses Hakenkreuz als sein Symbol verwendet und ist bis heute das Nationalsymbol der Mongolei. Und solche Sachen zu erleben ist einfach sehr spannend und so was sieht man dann eben in dem Film.
Dem zu Folge unterscheidet sich das Ganze ziemlich stark von einer Realityshow. Auf der anderen Seite ist eine Realityshow ja übrigens auch teilweise sehr gefaked. Da werden ja vorher Drehbücher geschrieben und da wird sich schon mehr oder weniger so verhalten wie das vorher festgelegt wurde. Es werden irgendwelche Szenen vom Team gemacht, z. B. dass da ein Auto gemietet wird, in der Show soll es dann das Auto des Protagonisten sein, das wird dann irgendwie kaputt gefahren und dann sollte sich der Protagonist aufregen und das ist dann halt ne Episode von so einer Show. Hier ist es ein bisschen was anderes, weil es wie eine Dokumentation ist wo wir die ganze Zeit gefilmt wurden. Wo man also sieht was so bei einer Tour alles passiert, vom Bühnenaufbau bis hin zu den letzten Sekunden vor dem Konzert. Was macht die Band hinter der Bühne wenn das Intro läuft oder was machen die nach dem Konzert oder auf ihren Hotelzimmern und solche Sachen.
Was ist das für ein Gefühl ständig eine Kamera im Nacken zu haben?
TILO WOLFF: Das Interessante ist eben, was ich am Anfang auch nicht gedacht habe, dass man irgendwann die Kamera nicht mehr bemerkt. Die Kamera wird zu dem Menschen der dahinter steht. Diese Menschen, mit denen fängt man ja irgendwann an ein persönliches Verhältnis aufzubauen. Am Anfang dachte ich auch, oh Mann, dass wird richtig heftig wenn da die ganze Zeit ne Kamera auf einen gerichtet ist. Aber irgendwann nach dem zweiten oder dritten Tag, wenn man auch mal nen bisschen was getrunken hat mit den Leuten und sich unterhalten hat und so, dann sind die halt immer dabei und gehören plötzlich zur Crew. Man merkt eigentlich gar nicht mehr, ob sie jetzt die Kamera gerade an haben oder ob sie gerade einen neuen Film einlegen oder was die überhaupt grad machen, weil die halt sowieso zur Crew dazugehören wie die zig anderen Menschen die ständig um einen herum sind. Und das ist dann doch ganz praktisch, weil man das gar nicht mitbekommt dass man eigentlich die ganze Zeit gefilmt wird.
Ich denke, dadurch gibt man sich dann ja auch natürlicher, man ist dann halt nicht in einer gewissen Rolle drin.
TILO WOLFF: Auf jeden Fall. Also die ersten Szenen die sind natürlich, ja so, ähm ein bisschen gestellt und unwohl, weil da ist ja ne Kamera und nach dem dritten, vierten Tag bemerkt man dann, wenn man jetzt das Material sichtet, da haben wir alle schon vergessen, dass die Kamera an ist. Das ist klasse.
Ihr habt in den verschiedensten Ländern getourt. Hattet Ihr auch Zeit etwas von Land und Leuten kennen zu lernen oder war es kaum machbar zwischen all den Terminen?
TILO WOLFF: Doch wir hatten immer mal wieder ein bisschen Zeit Sightseeing zu machen und die Menschen kennen zu lernen. Das Schöne ist ja auch, wenn man so auf Tour ist, ist das schon anders als wenn man in irgendein Land fährt als Urlauber. Als Tourist hat man wenig Chancen an die Einheimischen ran zu kommen. Wenn man auf Tour ist hat man ja immer örtliche Veranstalter, örtliche Betreuer, die dann entsprechende Sachen für einen vorgesehen haben, Meets and Greets organisiert haben oder die einen eben durch die Stadt führen und einem alles erklären. Das ist super spannend. Z. B. in Moskau hatten wir einen Reiseführer, der war unfassbar. Der kannte alles, wirklich egal, ich habe ihn wirklich alles gefragt, es gab nicht eine Situation wo er meine Frage nicht beantworten konnte, das war unfassbar. Der konnte mir echt alles über Moskau und die Geschichte u.s.w. erzählen.
In Peking war es eigentlich ähnlich und das ist dann doch sehr spannend. Man kommt dorthin, wird schon sehr warmherzig Willkommen geheißen, das fing meistens schon am Flughafen an, wenn da Fans stehen mit Blumen und Geschenken u.s.w. und man hat dann eben die Möglichkeiten. Wenn man auch am Tag nur noch drei oder vier Stunden überhaupt Zeit hat, dann sind diese Stunden wirklich ausgefüllt, weil sich vorher schon jemand von dem Team Gedanken gemacht hat, was wollen wir Lacrimosa alles zeigen, wo fahren wir die hin. Da hat man in kürzester Zeit sehr kompakt sehr viele Informationen und das finde ich sehr schön eigentlich.
Was waren die emotionalsten Momente auf der Tour, habt Ihr da ein ganz bestimmtes Erlebnis?
TILO WOLFF: Also eines der emotionalsten Momente war in Shanghai für mich persönlich. Das war ganz interessant, wir sind angekommen, hatten den ganzen Tag dann Pressetermine und verschiedene Dinge, Fanclubtreffen u.s.w. Vom Veranstalter war eine Dame abgestellt, die hat uns schon am Flughafen begrüßt u.s.w. und war eigentlich immer so mit dabei. Sie hat mir dann auch Zeitungssauschnitte gegeben, die sie im Vorfeld gesammelt hatte, sie war auch die Betreuerin bei einer der Pressekonferenzen u.s.w. Sie hat da die ganze Zeit einen sehr professionellen Job gemacht und das war zudem auch unser letztes Konzert auf dieser Tour in einer sehr schönen Konzerthalle. Dort gibt es ja keine Rockclubs oder irgendwas in der Art, weil dort ja keine Konzerte stattfinden, wir haben in einem bestuhlten Konzerttheater gespielt mit einer riesengroßen Pfeifenorgel an der Wand und über mehrere Ränge, also ein richtiges Theater und wunderschön.
Das Konzert ging los, ich kam auf die Bühne und da habe ich gesehen, wie sie, die sich vorher den ganzen Tag über so professionell um uns gekümmert hat, wie sie gestützt von einer Freundin in Tränen komplett aufgelöst war und dann auf die Bühne geschaut hat. Und da ist mir plötzlich bewusst geworden, dass das für sie nicht nur ein Job war, sondern dass sie das alles gemacht hat, diesen Job wohl angenommen hat um das Konzert so erleben zu können. Das war echt heftig, das ganze Konzert stand sie direkt am Bühnenrand, die Freundin hat sie gestützt und sie war so was von aufgelöst wie ich noch nie jemanden bei meinen Konzerten gesehen habe. Und dann hinterher, ein paar Stunden später, war sie dann wieder dabei auf der Aftershowparty. Da habe ich sie dann gefragt und da meinte sie, ja sie wolle mir das nicht erzählen weil es käme so unprofessionell aber sie ist seit mehreren Jahren Lacrimosafan. Sie hat den Fanclub auch gegründet und ihr größter Lebenstraum war mich einmal auf der Bühne live zu sehen.
Ich fand das so unfassbar wie dieser Mensch so unaufdringlich, professionell für uns gearbeitet hat und auf der anderen Seite so eine wahnsinnige emotionale Bindung offensichtlich zu uns hatte, die sie nur beim Konzert raus gelassen hat und hinterher auch überhaupt nicht mehr. Also auch als ich mit ihr darüber geredete hatte, hat sie mir das nur faktisch so erzählt, aber es war unglaublich und das hat auch so ein bisschen gezeigt, das ist sinnbildlich für die Chinesen im allgemeinen, wie wahnsinnig kontrolliert die sind und wie sehr die eben geschult sind ihre Emotionen unterdrücken zu können.
Das ist ja sehr heftig. Aber hattet Ihr auch negative Erlebnisse auf der Tour oder lief alles recht reibungslos?
TILO WOLFF: Es gibt natürlich immer Probleme. Eines der eigentlich schönsten Konzerte die wir hatten, hat leider sehr übel angefangen und zwar das in Dresden, Freilichtbühne Junge Garde. Wunderschöne Location und wir kamen an und der Veranstalter meinte, ich habe leider schlechte Nachrichten, hier lief seit ein paar Monaten ein Prozess, weil die Anwohner geklagt haben wegen der Lärmbelästigung, wegen den Konzerten die dort stattfinden und sie haben leider gewonnen und ab sofort muss die Band um zehn Uhr von der Bühne, oder um elf? Ich weiß es nicht mehr genau. Ist auf jeden Fall Curfew und die Band muss von der Bühne gehen. Wir mussten unser Konzert ich glaube um ne Stunde nach vorne verlegen oder hätten halt ein kurzes Konzert spielen können, was aber auch blödsinnig gewesen wäre.
Viele Leute sind ja zum Glück immer sehr früh da, aber es waren eben auch einige, die halt erst ein bisschen später gekommen sind und die haben sich dann natürlich schrecklich darüber aufgeregt, dass wir so früh angefangen haben. Die wollten ihr Geld zurück haben. Das war alles ein bisschen ärgerlich. Das Konzert selber war wunderschön, ich habe den Tag sehr genossen. Aber halt im Nachhinein gab es den Vorwurf, weil viel gefunden haben so nach dem Motto der hat einfach entschieden wir gehen jetzt früher auf die Bühne, stattdessen war das wirklich Curfew durch dieses Urteil was vorher ausgesprochen worden war. Was sollten wir da machen? Wenn wir länger gespielt hätten, wäre uns halt der Stöpsel gezogen worden.
Solche Sachen passieren halt manchmal, das ist dann sehr ärgerlich, vor allem wenn es so ein großes Konzert ist in einer tollen Location und wir hatten da ja auch wieder einen Haufen Kameras am Start. Wir hatten uns natürlich auf die Night shots gefreut, wenn man ne Stunde früher anfängt haben wir natürlich kaum in der Dunkelheit spielen können. Ich weiß nicht genau, ich glaub wir hatten dreizehn Kameras plus Kran u.s.w. am Start, was dann natürlich auch sehr ärgerlich ist, auch aus dem kommerziellen Standpunkt heraus, weil das Geld mehr oder weniger in den Sand gesetzt war.
Das ist natürlich super ärgerlich. Aber was denkst Du, was macht Euch auch im nicht deutschsprachigen Raum so erfolgreich?
TILO WOLFF: Ich denke einfach, dass es die Emotionalität ist. Weißt Du, es ist ja auch überraschend, dass wir z. B. im Norden wenig Anklang finden. Skandinavien, obwohl Anne aus Finnland ist, da muss man ja einfach sagen 50 % der Bandmitglieder sind Finnen, da müssten die Finnen ja mindestens mal interessiert dran sein. Aber Skandinavien hört Lacrimosa eigentlich kaum und in den Ländern, in denen man emotionale Musik hört, sei das jetzt nun im Süden oder eben in Ländern wie Polen, Russland, in der die Volksmusik auch sehr emotional, sehr schwermütig ist, dort hat Lacrimosa einen großen Anklang. Ich glaube das ist auch genau der Punkt. Die Menschen spüren halt einfach, dass es nicht einfach irgendein Stil ist der hier runtergeprügelt wird, sondern dass es hier um Emotionen geht die transportiert werden. Das dürfte wohl zu dem Erfolg von Lacrimosa führen.
Ich erlebe es auch immer wieder wenn Menschen zu mir kommen und mir sagen, ich muss eigentlich gar nicht verstehen was du dort auf Deutsch singst, weil ich verstehe alles durch die Musik. Die Musik bringt mir alles nahe was ich fühle. Manchmal lese ich mir dann, wir haben ja in unseren Booklets auch immer englische Übersetzungen der Texte drin, die englischen Texte durch und das ist dann genau das was ich mir vorgestellt und was ich dabei empfunden habe. Das ist eigentlich so das schönste Kompliment was ich hören kann, dann ist die Musik wirklich Trägermittel des Inhalts geworden und es ist genau das geworden was ich immer wollte, nämlich ein Mittel meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Das ist was ganz Wichtiges. Also die Musik ist nicht der Angelpunkt, sie ist nur ein Medium, sie ist nur ein Trägermittel. Was damit zum Ausdruck gebracht wird, darum geht`s.
Also es gibt viele Bands die Musik machen der Musik wegen oder weil sie Stars sein wollen oder irgendwie berühmt oder was erreichen wollen und die benutzen die Musik für irgendetwas ohne sie mit Inhalten zu füllen. Was wir versuchen ist, die Musik als Träger zu benutzen, indem wir sie mit Inhalt füllen, dass die Musik innig wird so zusagen.
Dienen dann also die spanischen Textzeilen bei „Nacht und Flut“ gar nicht dem besseren Verständnis sondern eher als ein Dankeschön an Eure Fans z. B. in Mexiko?
TILO WOLFF: Absolut. Bei dem Titel haben wir in Mexiko, und deswegen haben wir es dann auch dort aufgezeichnet, den letzten Chorus dann in Spanisch gesungen als Dankeschön. Wie oft bei Autogrammstunden haben Mexikaner zu uns gesagt, dass sie Deutsch studieren damit sie die Texte besser verstehen können oder im Forum sich mit den Fans besser austauschen können u.s.w. Da haben wir gefunden, dann sollten wir auch mal ein bisschen Spanisch lernen und ihnen mal ein bisschen was zurückgeben.
Wo siehst Du die wichtigsten Unterschiede der schwarzen Szene wenn man Europa mit Mexiko, Asien u.s.w. vergleicht?
TILO WOLFF: In Europa ist die Szene sehr, ich möchte mal sagen, breit getreten. In dem Sinn, dass sie sehr anfällig für kommerzielle Angriffe geworden ist. Die schwarze Szene hat in Europa, zumindest in Mitteleuropa, nur noch wenig mit Underground zu tun, es ist ein relativ durchstrukturiertes Business geworden und das Publikum forciert es teilweise noch, weil es sich eigentlich um die Inhalte wenig kümmert. Ich bin sicher, dass 80 % der Leute die Samstags Abends in irgendwelchen Clubs tanzen nicht wirklich wissen zu was sie da gerade tanzen und wenn sie es dann wissen, dann können sie vielleicht höchstens den Namen aussprechen, haben davon aber noch nie ne Platte gekauft, weil sie es sich im Internet gratis runter geladen haben.
Das ist natürlich eine Entwicklung die sehr fatal für die Szene ist, was letztendlich auch dazu geführt hat, dass im Prinzip in den Gothic-Clubs gar kein Gothic mehr läuft. Ich meine, ich kann mich erinnern als ich 93 Schakal raus gebracht habe. Da haben die DJs alle gesagt das spielen wir nicht. Die Gothic-DJs haben gesagt das ist Metal und die Metal-DJs haben gesagt das ist Gothic, aber keiner wusste genau was es wirklich ist weil`s halt dazwischen stand und es damals Gothicmetal eben in der Form noch nicht gab. Ja heutzutage wird es nicht gespielt weil Elektro alles dominiert und Gitarren gar nicht mehr vorkommen und Gothic hat eigentlich mit Elektro nichts zu tun. Das war ne Bewegung aus dem New Wave, die durchaus auch schöne Früchte hervorgebracht hat, aber mit Gothic nichts zu tun hat. Heutzutage wird das als Gothic verkauft und die Gitarre, die ja eigentlich das Instrument Nr. 1 der Gothicbewegung war, ist komplett in den Hintergrund gerutscht. Und das sind verschiedene Punkte der Entwicklung, die mir in Europa ein bisschen zu denken geben.
In Mexiko ist interessant, wir sind da zum ersten Mal vor zehn Jahren aufgetreten, da gab es noch keine wirkliche Szene. Die haben aber innerhalb dieser zehn Jahre eigentlich eine sehr beschleunigte Entwicklung durchgemacht, weil sie natürlich auch, zwar nicht so flächendeckend wie hier, aber auch durchaus durch das Internet informiert werden und so Kontakt zum Rest der Welt haben. Die Entwicklung ist aber in eine andere. Es gibt dort nicht diese Abspaltung, dass die Leute mit Scheuklappen rum rennen und sagen, ich bin ganz fixiert auf meinen Style und was anderes will ich nicht wahrhaben. Sondern eigentlich ist es ein großes Potpourri auch mit Metal zusammen.
Ich mein, wir haben das vorletzte Mal oder war das…ne das letzte Mal als wir in Mexiko gespielt haben, genau, ist ja auch auf dem Film drauf, als wir in Monterrey im Coca Cola Auditorium spielten, da hatte Stratovarius als Vorgruppe von uns gespielt. Das wäre in Europa undenkbar eine Metalband vor Lacrimosa, absolut undenkbar. Aber dort ist das überhaupt kein Problem. Dort spielt dann halt Stratovarius vor Lacrimosa. Und das zeigt eigentlich wie anders die Szene dort gerichtet ist. Und in China ist es mal interessant. Lacrimosa war jetzt die erste Band aus dem Genre die dort gespielt hat, und nach den Stones und Back Eyed Peas dort überhaupt spielen durfte. Ja, wir haben dort auch festgestellt, dass es keine Szene bisher gibt und ich bin jetzt mal sehr gespannt, wenn wir dieses oder nächstes Jahr wiederkommen was sich in der Zwischenzeit wieder getan haben wird. Aber natürlich hoffen wir, dass wir dazu beitragen können, dass die Chinesen Gothic so kennen lernen, wie es sich gehört mit den Werten und den Inhalten und vor allem dass Gitarren nichts Böses sind.
Was macht wenn Ihr auf Tour seid um mal zu entspannen?
TILO WOLFF: Pffff, unterschiedlich. Also Entspannung sehen wir durchaus darin wenn wir uns Städte angucken können, manchmal auch wenn man ein schönes Hotel hat und dort ins Spa gehen kann Sauna, Schwimmbad u.s.w und sich ne Massage gönnen kann. Das sind natürlich entspannende Momente. Aber es ist schon so, dass wenn man auf Tour ist, dass man immer so`n bisschen Grundanspannung hat. Also man kann nicht ganz auf Null runterfahren, weil die Energie die man bräuchte um dann wieder am nächsten Tag auf der Bühne zu stehen und 100 % zu geben.
Das würde einen wahrscheinlich mehr schlauchen von 0 auf 100 zu kommen als wenn man die ganze Zeit immer so ein bisschen den laufenden Motor hat und halt nie ganz ausschaltet. Es ist ja auch im Straßenverkehr so, ein laufender Motor, es kommt natürlich drauf an wie lange er läuft, aber er stößt weniger Schadstoffe aus als ein Motor der ständig neu gestartet wird. Also von wegen an jeder Ampel Motor ausmachen, das ist eher umweltbelastend als dass es der Umwelt was bringt. Wenn man jetzt nicht grad eine Viertelstunde da steht und den Motor laufen lässt. Dem zu Folge ist es genauso, man braucht halt mehr Energie um überhaupt erstmal in Gang zu kommen und deswegen fährt man auf Tour eigentlich nie so ganz runter und bleibt immer so auf einem gewissen Anspannungslevel.
Ist es da nicht schwer hinterher wieder runterzukommen oder ist man einfach nur noch total platt und erschöpft?
TILO WOLFF: Also es ist schon sehr schwer runterzukommen weil, natürlich freut man sich auf zu Hause, dass endlich wieder ein geregeltes Leben anfängt. Auf der einen Seite ist es ja so, auf Tour ist man ständig von Menschen umgeben und man sieht sich ständig irgendwelchen Problemen ausgesetzt, muss Fragen beantworten, Entscheidungen treffen und das meistens relativ schnell und irgendwann wird das zur Gewohnheit. Man nimmt es so in seinen Tagesablauf mit rein. Wenn man dann nach Hause kommt ist es wirklich komisch, dass man dann ganz alleine ist. Die Tür geht zu und es ist kein Mensch mehr um einen herum, das ist schon sehr heftig. Da wird aus dem, ich bin gerne mal alleine, also ich mag es alleine zu sein, aber aus diesem Alleine sein wird dann schnell mal plötzlich ne Einsamkeit und das ist dann nicht mehr ganz so schön.
Auf der anderen Seite ist es halt auch die Freude, dass man endlich niemanden mehr hat, der einem die ganze Zeit am Ohr hängt und einem das Ohr abknabbert und irgendwas von einem wissen will oder einem noch mal 20 Poster unter die Nase hält, die jetzt noch für irgendwas unterschrieben werden müssen. Zudem ist es ja so, wenn man auf Tour ist, haben alle Menschen die einen umgeben eine gewisse Erwartungshaltung. Das fängt an bei deiner Crew und geht bis zum Publikum. Jeder Mensch der dir begegnet hat ne Erwartungshaltung an dich und diese musst Du ja im Prinzip erfüllen. Wenn ich z. B. an eine Autogrammstunde denke, es gibt Menschen, die sehen einen, die treffen ihr Idol oder wie auch immer, einen Menschen den sie gerne sehen möchten ein einziges Mal in ihrem Leben und davon erhoffen sie sich dann schon was.
Für den bin ich ja dann auch nicht der Tilo Wolff oder die Anne, sondern für die Personen, die sehen ja was ganz anderes in uns, die sehen ja in uns was sie auf uns projizieren, was ja mit uns nichts zu tun hat, aber das sehen sie und das wollen sie natürlich auch ein bisschen, zumindest dem Anschein nach, bekommen. Die wollen da niemanden sehen, der total übernächtigt ist und noch einen Schädel vom Alkohol vielleicht von der Nacht davor hat und sie anschnauzt. Damit ist niemandem gedient und dementsprechend muss man jede Erwartungshaltung, soweit es natürlich möglich ist, ein Stück weit erfüllen. Und da ist es schon schön wenn man dann zurück ist, dass man dort einfach niemanden hat der eine Erwartungshaltung an einen stellt, sondern sich einfach zurücklehnen kann und ja einfach mal schweigen kann.
Aber wenn Ihr jetzt auf der DVD auch solche Ausschnitte habt wo ihr Backstage seid oder im Hotel, sind denn dann nicht auch eventuell Szenen dabei, die für manchen Fan dann doch ernüchternd sind, weil er dann auf einmal ein Idol hat was vielleicht doch total übernächtigt ist?
TILO WOLFF: Ja o.k., das stimmt natürlich. Aber da war die Frage machen wir einen Lacrimosa Propagandafilm oder machen wir eine Dokumentation. Da mein Grundgedanke war eine Dokumentation zu machen habe ich diesen Film auch einem externen Team in die Hände gelegt, die den Film gedreht und geschnitten haben damit ich eben gar nicht erst in Versuchung komme, hier irgendeinen Propagandafilm draus zu machen. Ich muss auch ganz ehrlich sagen, habe ich auf der anderen Seite auch gar nichts dagegen, wenn ich mal diese Dinge zurechtrücke. Ich meine, es ist ja in Ordnung wenn jemand sein Bild hat von seiner Band wie er sie sehen will. Aber gerade bei einer Band wie Lacrimosa, bei der die Musik und Emotionalität der Musik, im Prinzip alles was ich mache, ein Spiegel meiner Seele ist und im Vordergrund steht, also die Inhalte so transparent sind, ist es eigentlich ambivalent wenn die Oberfläche, nämlich das äußere Bild, überhaupt nicht durchsichtig ist und jeder irgendwie den Gerüchten glauben muss die er hört oder irgendwelche komischen Bilder in uns projiziert. Da ist es schon ganz gut, wenn man mal sieht, die sind ja gar nicht so, das sind auch ganz normale Menschen, die halt auf ihre Art ihr Leben respektive Tourleben meistern.
Da ist das gar nicht so schlecht, wenn da hier und da mal ein bisschen was zu Recht gerückt wird. Auf der anderen Seite ist es ja auch nicht so, dass man sich mit einer ganz anderen Band konfrontiert sieht, weil wir sind ja immer noch wir, auch wenn wir vielleicht nicht auf jedem Bild geschminkt sind. Es ist trotzdem noch Lacrimosa. Ich hänge ja auch privat nicht irgendwie in Blue Jeans rum oder was ich da auf dem Kopf trage ist ja nicht wie eine Perücke die ich mir dann nur auf der Bühne aufsetze. Ja es ist halt so wie es ist, es ist authentisch. Klar der eine wird natürlich sagen, oh der schläft ja gar nicht im Sarg, das ist ja langweilig. Der andere wird dafür auch sagen, oh klasse, der ist ja wirklich so wie ich gehofft habe, dass es gar nicht so überkandidelt ist. Die Erfahrung, die ich halt in all den Jahren gemacht habe, sei es nun mit Lacrimosa oder im Zwischenmenschlichen, wenn man die Dinge, man muss ja nicht mit einem Holzhammer immer kommen, aber wenn man die Dinge einfach so darlegt wie sie sind, ganz einfach unverblümt offen zeigt, dann ist das immer am Besten, weil letztendlich nur dann ist es echt und ich spüre die Menschen wieder.
Ich muss auch ganz ehrlich sagen, ich persönlich fühl mich immer ziemlich verarscht, ich lerne viele Bands kennen und wenn ich dann plötzlich merke, scheiße die sind überhaupt nicht so wie sie sich die ganze Zeit geben. Vor wenigen Tagen habe ich mit ner Band gesprochen, die ein Image sehr krass pflegt in eine gewisse Richtung. Weil ich diese nämlich super scheiße und super peinlich find, habe ich sie darauf angesprochen und dann meinen die, hey wir machen jetzt seit so vielen Jahren Musik, das war früher mal, als wir Teenies waren. Da fanden wir das in Ordnung, heute, das ist klar, das ist peinlich aber es macht Spaß die ganzen Kids dort im Publikum zu sehen und zu sehen wie wir die verarschen können. Da dachte ich nur das darf nicht wahr sein und für so was finde ich so einen Film ganz gut, weil es dem eben entgegen wirkt. Es ist dann halt einfach so zusagen die abgeschminkte Wahrheit.
Zusätzlich zur DVD gibt es eine Doppel-Audio-CD als Soundtrack zum Film. Warum getrennt? Wäre es nicht möglich gewesen die Audio-CD direkt zur DVD zu packen? Ist das absichtlich so?
TILO WOLFF: Es ist Absicht, weil das sind zwei getrennte Medien, die muss man auch als zwei getrennte Medien behandeln. Es ist ja so, dass der Ton ein Beiwerk des Films ist, also sprich die DVD hat sowieso Ton, sonst wär`s ja ein Stummfilm. Aber wenn man jetzt sagt, wir packen auf die DVD noch zusätzlich Audio-CDs dann hat man ja zweimal den gleichen Ton, das ist eigentlich unsinnig, weil die Quellen sind ja die gleichen, logischerweise. Allerdings ist es so, dass es einerseits viele Menschen gibt, die interessiert die DVD wahrscheinlich gar nicht, warum müssen die dann ein riesen Paket kaufen, wenn sie doch nur die CDs hören wollen? Vielleicht haben auch einige Menschen gar keinen DVD-Player, bei manchen ist es vielleicht umgekehrt. Es gibt einige die vielleicht sagen, ich kann mit Lacrimosa gar nicht so viel anfangen aber ich kaufe mir die DVD, weil da kann ich auch die ganze Musik ausblenden.
Es gibt im Menü drei Möglichkeiten. Einmal Play all, dann sieht man den ganzen Film drei Stunden. Es gibt Play Videoclip, da sieht man nur die Liveaufnahmen und dann gibt es aber auch Play Offstage, wo man halt nur alles sieht was so hinter der Bühne passiert, aber keine Konzertausschnitte. So können eben auch solche Leute dann ein derartiges Produkt kaufen und haben nicht noch einen Haufen CDs die sie nicht wollen am Start. Das ist der eine Grund. Der nächste Grund ist der, es sind tatsächlich eben zwei verschiedene Medien. Man vermischt ja auch nicht irgendwie ein Motorrad mit einem Fahrrad. Klar sie bringen einen weiter, bringen einen von A nach B, aber das Gefühl auf einem Motorrad zu sitzen ist ein deutlich anderes wie das Gefühl auf einem Fahrrad oder im Auto. Und das muss man schon klar trennen.
Und wenn ich von mir ausgehe, ich habe in meinem Musikzimmer meine CD-Sammlung und in meinem kleinen Heimkino habe ich meine DVD-Sammlung. Ich hasse diese Kombiprodukte, weil ich weiß dann nie wo ich sie hinpacken, wo ich sie einsortieren soll. Wenn ich sie z. B. zu den DVDs stelle, dann werde ich mir garantiert die Musik wahrscheinlich nie anhören, weil ich nie dran denke, wenn ich im Musikzimmer bin mir irgendwann mal die DVD von unten zu holen und umgekehrt. Das sind zwei getrennte Medien, das eine gehört dahin und das andere gehört dahin und ich finde das sollte man absolut trennen. Es kommt natürlich dazu, was ich eingangs schon erwähnte, dass wenn jemand die CDs gar nicht will und nur die DVD, da wäre es dann nicht fair, wenn man ihm ein riesen Paket aufs Auge drückt.
Gab es trotz der Tour und dem Stress mit der DVD noch Zeit neues Material zu komponieren?
TILO WOLFF: Wenig, wenig. Also ich bin ja eigentlich permanent am komponieren, weil ich da auch nicht so in Kategorien von Alben denke. Es ist nicht so dass ich sag, jetzt setz ich mich hin und schreib ein neues Album, denn das gehört ja fast zu meinem Tagesablauf Texte zu schreiben, respektive Musik zu komponieren. Aber es ist tatsächlich in den letzten Wochen und Monaten sehr selten dazu gekommen, was mir auch ein bisschen fehlt und das wird natürlich auf jeden Fall, so bald die Veröffentlichungen durch sind, das das Erste sein worauf ich mich freue, dass ich endlich wieder zukünftiges Material komponieren kann.
Was ist an Liveaktivitäten in näherer Zukunft geplant?
TILO WOLFF: Am 17. Juni spielen wir auf dem Woodstage als Co-Headliner von Marilyn Manson, es wird wahrscheinlich auch noch weitere Konzerte in Deutschland dieses Jahr geben, aber da ist noch nichts fest gebucht. Wir werden auf jeden Fall dieses Jahr noch ne Südamerikatour machen mit Chile, Argentinien und Brasilien, denn die Länder haben wir jetzt schon seit vier Jahren nicht mehr besucht, das wird dringend Zeit. China hat eigentlich auch schon wieder angefragt, aber das ist genauso wie mit Deutschland, da wissen wir auch noch nicht, ob wir das noch mal mit rein kriegen. Aber schön wär`s natürlich schon, weil, ich bin immer noch ein bisschen gepusht durch die vielen schönen Konzerte die wir hatten und ich hätte nichts dagegen wieder auf die Bühne zu gehen. Auf der anderen Seite eben juckt es mir unter den Fingern wieder zu komponieren, je mehr wir unterwegs sind desto weniger werde ich dazu kommen.
Mit diesem weltweiten Erfolg wirst Du ja zu Gründungszeiten wohl kaum gerechnet haben. Wo siehst Du Dich und Lacrimosa in sagen wir mal etwa 10 Jahren?
TILO WOLFF: Oh ha. Also solche Prognosen möchte ich überhaupt nicht aufstellen. Ich habe einmal gesagt ich möchte bis ich 30 bin meinen ersten Film gedreht haben, weil ich ja ein sehr großer Filmfan bin u.s.w. Das war so eine Maßgabe und das habe ich nicht geschafft und das hat mich wahnsinnig geärgert. Das war das einzige Problem als ich 30 geworden bin, das war gar nicht das Alter, sondern einfach nur, scheiße ich hab nicht geschafft was ich wollte. Und ich hab gar nicht drauf geguckt, hey aber was ich sonst geschafft hab ist doch super, ich kann doch wahnsinnig dankbar sein. Nee nur so, ich hab es nicht geschafft. Das ist totaler Unsinn, deswegen mache ich keine Prognosen mehr. Ganz abgesehen davon, dass es einem auch irgendwo den Spaß nimmt. Wenn jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, in zehn Jahren wirst Du die erste Gothic-Band sein die in China auftritt. Hm, das ist ja super toll aber jetzt hast Du mir grade mein Feuer ausgeblasen. Ja von dem her, ich lass mich überraschen.
Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn ich in zehn Jahren noch Musik machen darf und zwar auf einem Level der Lacrimosa gerecht wird, also sprich dass ich auch solche Produktionen machen kann mit einem bisschen Aufwand, dann bin ich eh schon zufrieden, weil was will ich mehr? Ich bin genauso an dem Scheidepunkt bevor es richtig ätzend wird, weil ich hab ein Privatleben, ich hab meine Ruhe wenn ich sie haben will und wenn ich auftreten will und Rummel um mich haben will, dann kann ich das sofort auch forcieren sozusagen. Ich stehe genauso zwischen drin. Das ist eigentlich optimal.
Was anderes, klar, ein Rückschritt wäre schade, das ist ganz klar, aber ich möchte irgendwie auch nicht, dass es sich in eine andere Richtung entwickelt, weil das wäre dann auch langsam nicht mehr zu bewältigen. Ich hab jetzt schon ein Problem überhaupt die vielen Länder, in denen wir immer wieder gerne auftreten, unterzubekommen. Wenn jetzt noch irgendwelche TV-Shows im großen Stil dazukommen würden oder ich kein richtiges Privatleben mehr hätte, vor allem letzteres, da würde ich dann echt überlegen ob es das dann wert ist. Also von dem her, wenn es so noch ein bisschen weiter geht wäre ich sehr glücklich.
Also könntest Du Dir schon vorstellen so wie die Stones z. B. auch in zehn oder zwanzig Jahren noch zu touren?
TILO WOLFF: Wenn ich das gesundheitlich hinkriege auf jeden Fall.
Zum Schluss komme ich dann noch mal zu einem ernsten Thema und zwar Downloads. Wie siehst Du die Dinge da es Dich ja als Labelchef und Musiker gleich doppelt betrifft?
TILO WOLFF: Na ja, illegale Downloads sind ganz klar Diebstahl. Genau wie wenn ich in ein Restaurant rein gehe, was esse und hinterher raus gehe ohne bezahlt zu haben. Der Koch hat die Speisen vorher eingekauft, der hat dann seine Arbeitszeit drauf verwendet das Essen zuzubereiten und das muss bezahlt werden. Viele schreien dann immer, das ist Kommerz. Aber warum soll das Kommerz sein, warum soll ein Musiker nicht genauso bezahlt werden wie jeder andere auch. Wenn ich dann jemanden sage, der so was zu mir sagt, du gehst doch auch nicht zu deinem Job und machst das einfach aus Spaß und wenn dann am Monatsende dein Chef zu dir sagt, du kriegst ab sofort keinen Lohn mehr. Dann sagst Du ja auch nicht, ja o.k. ist in Ordnung, ich will ja sowieso nicht kommerziell drauf sein.
Das ist einfach, ein Studio kostet Geld, Platten zu pressen kostet Geld, es ist sehr viel Arbeitszeit die da darin investiert wird und von irgendwas muss selbst auch ein Musiker, so künstlerisch er vielleicht auch drauf ist, leben. Und dem zu Folge, wenn man sich jetzt auch die Entwicklung anschaut, ist es gerade im Underground sehr dumm eigentlich sich so zu verhalten, dass man für die Musik kein Geld mehr ausgibt. Einerseits sieht man, dass ein Indielabel nach dem anderen Pleite geht. Zweitens: die, die sich noch halten konnten droppen ihre Bands und nehmen nix Neues mehr unter Vertrag. Das heißt, es ist eine Entwicklung im Gange die im Prinzip die Musik auf ein Minimum reduzieren wird und dabei werden nur die überleben, die am meisten mit Geld um sich hauen können. Sprich im Prinzip werden das die Majorplattenfirmen sein und paar Indies, die sich vielleicht zusammengeschlossen haben, die aber auch nur als großes Indie funktionieren können, weil sie die kommerziellen Mechanismen inzwischen übernommen haben. Die meisten Indies arbeiten inzwischen genauso wie Majorcompanies, nur im bisschen kleineren Stil, aber die Mechanismen sind die gleichen. Das heißt also, dass der Kunstgedanke aus der Musik mehr und mehr verschwinden wird und der Kommerz, wie kann ich das am besten verkaufen, immer größer wird.
Das ist das Ambivalente dabei. Derjenige der sagt, wieso willst Du Geld für Deine CD haben, sei doch zufrieden, dass ich sie überhaupt höre, ich lade mir die gratis runter, der forciert damit den Kommerz des gesamten Musikbusiness. Was wir jetzt seit fünf Jahren erleben, wir haben seit etwa fünf, sechs Jahren einen Umsatzrückgang von 70 %, was damit vergleichbar wäre wenn ein Chef sagen würde, du verdienst jetzt 70 % weniger. Trotzdem muss man ja noch einen gewissen Qualitätslevel halten und das wird einfach sehr schwierig. Und ich verstehe einfach nicht, warum die Menschen nicht umdenken und so egoistisch sind und sagen, ja gut, wenn ich zu Hause an meinem PC bin, da sieht es ja niemand wenn ich es illegal downloade, dann mach ich das halt. Wenn ich beobachtet würde dann würde ich es nicht machen. Das ist ein sehr dummes Verhalten und letztendlich schaden sie sich indirekt damit am meisten selbst, weil übrig bleiben werden ein paar große Majorplattenfirmen die dann ihre großen Pläne durchdrücken. Ich muss ehrlich sagen, ich habe keine Lust auf einer Welt in der es nur Künstler gibt die sowieso schon im Radio und überall schon jetzt sehr omnipräsent sind zu leben.
Da gibt es ja noch einige ganz clevere Leute die sagen, ja aber es gibt doch das Internet, man kann doch alles ins Internet stellen, da kann doch jeder alles finden. Das stimmt schon, es gibt da nur zwei Haken:
1. um was ins Internet stellen zu können muss man vorher auch wieder aufgenommen haben, also die Herstellung kostet Geld. Man sieht es gerade in der Elektroszene, da wird dieser Faktor teilweise nicht mehr ernst genommen und jeder der ein Keyboard und ein Musikprogramm zu Hause hat denkt Musik machen zu müssen, was dann zu unglaublich … na ja zu anderer Musik führt.
2. natürlich kann jeder was ins Internet stellen, nur wie soll man das finden wenn man nicht das Geld hat um entsprechend Bannerwerbung zu schalten. Links, die ja inzwischen auch teilweise Geld kosten, je nach dem. Also wie soll ich bitte bei dem ganzen Input der im Internet zu finden ist oder reingestellt wurde, wie soll ich dort Band XY finden, weil die so großartig sind, wenn die keine Chance haben sich überhaupt auf irgendeine Art und Weise bemerkbar zu machen.
Da ist halt einfach ein riesen Manko im Internet, sonst ist es wirklich ein tolles Medium, klasse, absolut. Aber die Leute die halt immer gesagt haben, wir brauchen die Plattenindustrie nicht oder wir brauchen keine Vermarktungsriege, ich stelle das ins Internet und dann kann das die ganze Welt hören, stimmt theoretisch, aber in der Praxis funktioniert es eben nicht.
Inwiefern machst Du die Preispolitik der CDs zum Teil damit verantwortlich? Neuerscheinungen liegen kaum unter 18,99 Euro, das ist ne Menge Geld, gerade auch bei der Arbeitslosenrate oder für jüngere Fans mit wenig Taschengeld kaum finanzierbar.
TILO WOLFF: Ja es ist heftig, aber auf der anderen Seite wenn man die Produktionskosten dagegen stellt relativiert sich das wieder sehr schnell. Für die Elodia damals, war damals noch in DM, die hat über 500 000 DM gekostet, nur die Aufnahmekosten. Da waren jetzt noch keine Marketingkosten, Presskosten oder sonst irgendetwas mit eingerechnet. Das Geld muss natürlich auch irgendwie wieder rein kommen. Produktionen sind teilweise sehr teuer und das Geld muss reinkommen. Man kann ja nicht auf die CD schreiben, wir haben hier mit Orchester aufgenommen, ihr hört hier was ganz spezielles und deswegen kostet die CD einfach 5 x soviel wie ne andere CD. Sie steht letztendlich genauso teuer oder billig im Laden wie ne CD die eben 5000 Euro gekostet hat in der Produktion.
Es ist natürlich ein grundsätzliches Problem, dass man von Anfang an nicht gesagt hat, man macht die Preise der CDs entsprechend ihres Aufwandes abhängig. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich auch die Gegenreaktion der Industrie, dass die Industrie sagt, ja gut früher habe ich 100 000 Platten verkauft, jetzt verkauf ich noch 30 000, jetzt muss ich mit den 30 000 genauso viel Geld verdienen wie ich damals mit den 100 000 verkauften CDs verdient habe. Also mache ich die CDs teurer. Ist natürlich nicht der clevere und gute Weg, aber manche wissen sich anders nicht zu helfen.
Das war es von meiner Seite, ich bedanke mich für das nette Gespräch, es hat mir viel Spaß gemacht…
TILO WOLFF: Es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht, demzufolge auch Dir herzlichen Dank.
… und jetzt freue ich mich schon riesig auf die DVD.
TILO WOLFF: Ja, ich wünsche Dir viel Spaß damit und ob sie dir gefallen hat, kannst Du mir vielleicht beim nächsten Interview erzählen.
2007 (c) Susanne Soer, obliveon.de
Foto: Thomas Köhn (Woodstage Festival 2007)
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