Will man beschreiben, welches Publikum in einem Restaurant verkehrt, so reicht beispielsweise der Begriff Banker und sofort entsteht ein gewisser Konsens über den Kleidungsstil. Dass diese Einteilungen große Fallstricke besitzen, ist unbestritten. So sollte man sich stets davor hüten, alle Menschen eines Landes über einen Kamm zu scheren, und doch geschieht es täglich. Tilo Wolff(Lacrimosa), gebürtiger Deutscher, dessen Lebensmittelpunkt seit langer Zeit in der Schweiz liegt, hat sich im folgenden ein paar Klischees über Deutschland genauer angesehen.
Deutschland und sein Wirtschaftswunder.
TILO WOLFF: Grundsätzlich muss man erkennen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Wirtschaftswunder in das Land hineingetragen wurde, zumindest die Basis dafür. Der Grund war, dass man vermeiden wollte, dass der abgespaltene russische Sektor den westlichen Sektor wirtschaftlich übertrumpft. Man brauchte außerdem ein starkes Deutschland in der Mitte Europas als Verbündeten für den Westen. Deshalb sollte die Bevölkerung möglichst schnell wieder auf die Beine kommen. Die USA, aber auch Großbritannien haben Deutschland sehr stark geholfen. Dass das Volk mitgearbeitet hat, darf man aber nicht vergessen. Dass Deutschland aktuell in der EU so gut dasteht, hat ganz andere Ursachen. Ich kann aber nicht wirklich erklären, wie es kommt, dass Deutschland wirtschaftlich so stabil innerhalb Europas existieren kann. Ich würde den Bogen gerne weiter fassen. Ich sehe im Moment weniger zwischen der Zeit des Wirtschaftswunders und der Gegenwart eine Parallele, für mich ähnelt die Zeit jetzt eher der Phase zwischen der Jahrhundertwende 1900 und dem ersten Weltkrieg. Ich habe etwa Angst, dass die Blase relativ schnell platzt, wenn man an der richtigen Stelle ansetzt.
Pünktlichkeit.
TILO WOLFF: Ja, das trifft zu. Ich merke es ganz besonders, wenn wir in Lateinamerika oder Russland auf Tournee sind. Wenn man sich dort beispielsweise erkundigt, wie weit es vom Hotel zur Venue ist und man die Auskunft fünf Minuten erhält, dann kann die Fahrt plötzlich doch eine Stunde dauern. Für die wartenden Fans wird einfach die Tür etwas später geöffnet und keiner sieht darin ein Problem. Wenn wir uns daraufhin aufregen, das wird dort überhaupt nicht verstanden. So bemerke ich jedes Mal, wie pünktlich deutsch wir sind. Ich finde diese Eigenschaft sehr gut. Wenn etwas um drei Uhr stattfinden soll, warum sollte man dann bis vier Uhr trödeln?
Das Land der Meckerer und Miesepeter.
TILO WOLFF: Ja, sie meckern viel, aber dauernd sauer, das sehe ich nicht so. Ich sehe eher das Partyvolk, das manchmal vielleicht sogar ein bisschen kopflos ist. Deutsche sind oftmals grundlos neidisch und nicht zufrieden mit dem, was sie haben. Sie gucken immer auf den Teller des Nachbarn. Das verstehe ich nicht.
Deutscher Humor.
TILO WOLFF: Auf jeden Fall gibt es den. Nur weil der Deutsche ein guter Arbeiter oder ein disziplinierter Mensch ist, kann er doch auch eine zweite Seite haben. Disziplin schließt Humor nicht aus. Ich finde den deutschen Humor großartig.
Gartenzwerge – unerträglich oder lustig?
TILO WOLFF: Ich verstehe diese Figuren nicht. Ich habe nie verstanden, warum Gartenzwerge erfunden wurden und warum sie jemand kauft. Ich habe aber keinen Hass dagegen, ich verstehe es nur einfach nicht. Das entzieht sich meinem intellektuellen Horizont.
Reiseweltmeister.
TILO WOLFF: Es ist sehr wichtig, etwas von der Welt zu sehen. Viele US-Amerikaner sind entweder aus ihrem Bundesstaat oder aus ihrem Land noch nie hinausgekommen. Nach Europa zu fliegen, ist schon sehr ungewöhnlich. Ich finde es toll, dass die Deutschen da so weltoffen sind und neue Kulturen immer wieder besuchen und so auch etwas in ihr Gedankengut hinein tragen. Für mich ist das ein entscheidender Grund. Wenn man immer nur den eigenen Garten sieht, lernt man nichts von der Welt. Vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb Deutsche sehr tolerant gegenüber anders Denkenden und anderen Kulturen sind. Sie sind viel rumgekommen und bilden sich viel in dieser Richtung fort.
Alles Neuschwanstein, oder was?
TILO WOLFF: Bild wird immer wieder forciert. Bei der WM vor ein paar Jahren kamen als erstes Bayern in Lederhosen auf den Platz. Wenn man sich so der Welt gegenüber präsentiert, dann muss man sich nicht wundern, dass man genau darauf reduziert wird.
2014, Sonic Seducer – Sonderedition Man Spricht Deutsch, Peter Heymann
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