Im vergangenen Monat stellte Lacrimosa das aktuelle Album “Stille” live vor. Die Tour endete mit einem Auftritt vor französischen Fans in Paris. Orkus sprach mit Tilo Wolff über das neue Album, und einiges mehr…
Euer jüngstes Werk heiβt “Stille” – warum?
TILO WOLFF: Das hat verschiedene Gründe. Zunächst mal ist es so, daβ jede Platte an den Vorgänger anschlieβt. Der letzte Song der Vorgängerplatte wird weitergeführt zum ersten Song der nächsten Platte. Und der letzte Song auf der “Inferno” war “Der Kelch des Lebens”, der mit den Worten “…der Traum der mich geführt und folgen werde ich bis in die Glut …” aufgehört hat. Wenn man sich jetzt vorstellt, daβ man aus dem Inferno herauskommt über die Glut, hinter einem Nebelschwaden und vor einem erstreckt sich der erste neue Tag. Darum ja auch “Der Erste Tag” als erster Titel auf der “Stille”.
Da ist diese innere Ruhe, die eingekehrt ist. Daβ man durch alles, was man durchgemacht hat eine innere Reife und Ausgeglichenheit gefunden hat. Das ist eigentlich der Hauptgrund, warum die Platte “Stille” heiβt. Zum anderen liegt es auch in den Texten begründet. Die Texte sind sehr tiefgehend, sehr persönlich und sehr ehrlich. Von dem her erfordert es eine extreme Stille, diese Texte schreiben zu können – ich brauchte innere Ruhe – und um sie verstehen zu können. Auβerdem hatte ich gedacht, daβ das Album viel viel härter werden würde und war dann selbst überrascht, daβ es dann relativ ruhig geworden ist. Es ist dynamisch, es hat sehr laute und heftige Parts, auch sehr viele ruhige Sachen.
Es bedeutet also nicht zurück zu den Anfängen “Angst” oder “Einsamkeit” – trotz Ruhe kein Stillstand, sondern Entwicklung?
TILO WOLFF: Jein. Es geht schon so ein biβchen zu den Anfangssachen zurück. Wenn man die “Inferno” mit der “Angst” vergleichen würde, dann könnte man die “Stille” mit der “Einsamkeit” vergleichen. Wenn man sich die Kompositionen ansieht, wird man feststellen, daβ die “Inferno” ähnlich gehalten ist, wie die “Angst”, wobei das mehr Zufall war. Was mich selbst überrascht hat. Natürlich war ich dann gespannt, ob es bei der “Stille” dann ähnlich wird. Und Parallelen zur “Einsamkeit” gibt es tatsächlich. Aber es ist eher unbeabsichtigt.
Als Stillstand würde ich das allerdings nicht bezeichnen. Im Gegenteil, es ist an sich eher ein Aufbruch. Ein Aufbruch in die neue Welt sozusagen. Der erste Tag ist die wie Frage wo stehe ich, wo komme ich her, was habe ich bisher erlebt und wie kann es weitergehen? Erstmal diese Selbstverleugnung am Anfang, dann die Standortbestimmung und dann ist der Rest der Platte ein ziemlich starker Aufbruch. Was ja mit der Single “Stolzes Herz” eigentlich schon angedeutet wird. “Stille” heiβt die Platte auch, weil sie sehr viel bewegt. Es gab noch nie so eine abwechslungsreiche und dynamische “Lacrimosa -Platte wie die “Stille”. Die aber gerade deswegen bescheiden daherkommt. Die “Stille” ist sehr direkt.
Habt ihr “Stolzes Herz” als Vorab-Single gewählt, weil es diesen Aufbruch symbolisiert?
TILO WOLFF: Unter anderem. Das ist eigentlich der Text, warum es Lacrimosa gibt. Das ist das, was ich mit Lacrimosa ausdrücken möchte. Nur hatte ich bisher noch nie die Fähigkeit das so umzusetzen. Ich hatte immer die Angst, daβ ich diese Kraft nicht umsetzen kann. Ich hätte den Text natürlich in zwei Etappen schreiben können, den Anfang, wenn es eher nicht so gut geht und den Mittelteil oder Refrain, wenn es mir gut geht. Wobei, ich wollte eben schreiben, wenn ich wirklich am Boden liege. Im Schreiben diese Kraft an sich erleben, um es dann auch im Wort so umsetzen zu können …, Wenn man schreibt, ist das eine Art Selbsttherapie, sich alles von der Seele zu schreiben und rauszuschreien.
Mit dem Zweck, daβ es einem hinterher besser geht. Und wenn man diesen Moment, wenn es einem besser geht, mit in den Text einflieβen läβt, dann ist das sehr sinnvoll. Es geht ja auch darum, daβ man wieder ans Licht kommt, daβ man auch wieder das Positive sieht und nicht im Selbstmitleid ertrinkt. Aber dann diese Kraft zu haben, wirklich in diesem Moment den Mut zu haben, wieder aufzustehen und das dann auch so auszudrücken in Wort und Musik, das habe ich bisher noch nie so richtig gekonnt. Ich hatte es zwar im Kopf, habe es aber nie so richtig hingekriegt. Und das hat jetzt bei “Stolzes Herz” zum ersten Mal funktioniert und darum habe ich dann, als der Song fertig war gedacht: Egal, auch wenn er jetzt unkommerziell geworden ist, das muβ die Single sein. Das ist so ein wichtiges Thema für Lacrimosa.
Woher nimmst du die Kraft, deine Gefühle so rausschreien zu können, hast du keine Angst, daβ das als Schwäche gesehen wird?
TILO WOLFF: Ich denke, Schwäche zu zeigen ist eine Stärke. Es ist sehr einfach, keine Schwächen zu zeigen. Der Mensch macht sich das Zusammenleben so kompliziert, weil er nicht fhig ist, seine Gefühle zu zeigen, weil er nicht fähig ist, Schwächen zu zeigen. Jeder Mensch hat Schwächen. Ganz besonders Männer haben damit Probleme. Meine Kraft nehme ich aus dem Glauben. Auβerdem habe ich das Bedürfnis, meine Gefühle zu beschreiben. Ich wäre nicht glücklich, wenn ich das unterdrücken würde.
Kannst du dich in eine andere Person hineinversetzen?
TILO WOLFF: Ich denke schon.
Also erzählst du in deinen Texten nicht nur von deinen eigenen Gedanken?
TILO WOLFF: Natürlich wird man von der Umwelt jeden Tag beeinfluβt. Dabei geht es bei den Lacrimosa-Texten schon um die Dinge, die mich selbst betreffen und die ich selbst durchgemacht habe und selbst erlebt habe. Es kommen hin und wieder mal Leute auf mich zu, die mir ihre Geschichte erzählen und dann wünschen, daβ ich da einen Text drüber schreibe oder einen Song mache – aber das kann ich nicht. Ich kann mich zwar hineinversetzen, aber ich könnte niemals so eine extreme Verbindung dazu aufbauen, weil ich es nicht selbst erlebt habe. Die Gefühle wären niemals so stark, daβ ich das umsetzen möchte.
Benutzt du Literatur, um dich auszudrücken?
TILO WOLFF: Ich würde gern viel mehr lesen. Dazu fehlt leider die Zeit. Ich mag Kafka, der hat mich vom Inhalt her sehr fasziniert … Ich selbst habe schon geschrieben, bevor ich überhaupt gelesen hab. Vielleicht ist es so, daβ man, wenn man wenig liest und selber schreibt, auf Sachen kommt, auf die man nicht kommen würde, wenn man sie irgendwo gelesen hätte. Weil man dann im Kopf zugeknallt ist und beeinfluβt ist.
Zweifelst du manchmal an dir selbst?
TILO WOLFF: Ständig.
Warum?
TILO WOLFF: Gute Frage … Ich hinterfrage sehr viele Dinge und dann beginnen die Selbstzweifel. Aber ich denke, es ist auf eine Art gesund, wenn man es nicht übertreibt. So kann man sich auch weiterbilden.
Denkst du, daβ du deinen Weg im Leben gefunden hast?
TILO WOLFF: Ich habe EINEN Weg gefunden.
Ist es deiner?
TILO WOLFF: Sicherlich auf eine Art ja. Wenn vor ein paar Jahren einiges anders gelaufen wäre und ich hätte nicht mit der Musik angefangen, vielleicht wäre ich jetzt in irgend einem anderen Lebensbereich viel glücklicher. Ich weiβ es nicht. Es ist auf jeden Fall ein Weg, der mich ausfüllt.
Musikalisch hast du dich weiterentwickelt, hat sich auch privat dein Musikgeschmack verändert bzw. erweitert?
TILO WOLFF: Ja, ein biβchen erweitert. Das hat aber eigentlich nicht so wahnsinnig viel damit zu tun. Ich höre schon ziemlich lange parallel zum Gothic Rock der 80er Death Metal, Pink Floyd oder David Bowie. Es hat eigentlich mehr damit zu tun, daβ ich mich als Produzenten ernster genommen habe. Ich habe mir eigentlich erst seit der “Inferno” als Produzent ein gewisses Ziel gesetzt. Früher habe ich für Lacrimosa zunächst mal nur die musikalische Seite betrachtet und weniger realisiert, daβ ich der Produzent bin. Und welche Verantwortung ich eigentlich auch habe. Ich denke schon, daβ man, wenn man mit Schlagzeug und Gitarristen arbeitet, dann könnte man ja auch probieren, den Sound so rüberzubringen, daβ er auf der einen Seite knüppelhart ist, auf der anderen Seite aber auch transparent.
Vor allem, weil diese Kombination von “modernen” und klassischen Instrumenten mich schon immer fasziniert hat. Beide Sachen so zu produzieren und zu arrangieren, daβ sie eigenständige Dinge sind, daβ es nicht klingt wie eine Klassik-Rockplatte, sondern effektiv eine anständige Rockproduktion ist, die aber trotzdem absolut klassikkompatibel ist. Das erfordert dann, daβ alles ziemlich heftig rüberkommt. Auβerdem unterstreicht das natürlich sehr stark diese Zwiespдltigkeit der Texte, die Kontraste in den Texten, die ich ja auch in der Musik rüberbringen möchte. Das habe ich teilweise, ohne es zu merken, auf den alten Platten etwas vermiβt. Ich habe da teilweise Songs wie “Diener eines Geistes”, wo ich versucht habe, in der Komposition die Härte rüber zu bekommen, aber in der Produktion das nicht ganz so hinbekommen habe.
Auf den letzten Platten hat Anne eigene Titel – ist ein Soloprojekt geplant?
TILO WOLFF: Nein.
Ihr wart jetzt auf Tour – kommt das Album an?
TILO WOLFF: Ja – sehr gut sogar. Wir sind ziemlich überrascht. Es ist ja doch nicht gerade eine sehr einfache Platte. Die Leute waren sehr begeistert. Es kamen fast nur positive Reaktionen. Was mich sehr gefreut hat. Es ist vielen Leuten aufgefallen, daβ die Platte ja sehr ehrlich ist. Die Leute erkennen schon, daβ ich was vermitteln will.
Was folgt jetzt, nach der Tour – etwa Urlaub?
TILO WOLFF: Wir sind wieder zurück im Büro, da bereiten wir die Veröffentlichung von Dreams Of Sanity vor, die im frühen Herbst erscheinen wird. Dann kommt auch bald die neue Platte von The Breath Of Life. Und dann machen wir uns auch Gedanken, wie es mit Lacrimosa weitergehen wird. Wir sind im Moment am Űberlegen, ob wir eine Live-Platte und ein Live-Video veröffentlichen, denn wir haben auf der Tour einige Shows aufgezeichnet. Auβerdem ist da noch die normale Büroarbeit für Hall Of Sermon.
Nerven dich eigentlich die vielen Interviews, die du geben muβt?
TILO WOLFF: Das kommt drauf an, sie können absolut zum Kotzen sein, können aber auch sehr interessant sein, wenn die Fragen interessant sind. Glücklicherweise waren die Interviews, die ich während der Tour hatte, durch die Bank weg interessant. Es hat sehr viel Spaβ gemacht, weil die Leute sich auch gute Sachen ausgedacht haben, intelligente Fragen gestellt haben. Dann macht es schon Spaβ.
Möchtest du abschlieβend den Leuten, die deine Musik lieben, noch was sagen?
TILO WOLFF: Ich kann mich eigentlich nur immer wieder bedanken, daβ das Lacrimosa – Publikum so tolerant ist, was in dieser Szene leider nicht mehr so an erster Stelle steht. Daβ es mit allen Launen und Űberraschungen, die es auf den Platten gibt umzugehen weiβ und sie nicht nach dem ersten Hören beurteilt. Das finde ich absolut genial.
1997, Orkus.de, Sylvia S. König
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