Anläßlich des 20-jährigen Geburtstages von Lacrimosa erhielt ich kürzlich die Gelegenheit, mit Lacrimosa ein telefonisches Interview zu führen. Am Abend des 20. Aprils klingelte gegen kurz nach 19:00 Uhr das Telefon und ein gewisser Tilo Wolff meldete sich am anderen Ende der Leitung. Lest hier, was Tilo über 20 Jahre Lacrimosa zu den Bausteinen “Historie”, “Jubiläums-Album Schattenspiel” und “Blick in die Zukunft” zu sagen hat.
Im November 1990 kam euer Demo-Tape heraus. Würdest du selber sagen, daß das die Geburststunde von Lacrimosa war oder hast du sogar noch etwas eher angefangen?
TILO WOLFF: Im Prinzip war das die Geburtsstunde, weil ja Lacrimosa nicht als Band gegründet wurde, sondern das erste Tape tatsächlich der erste Output war, in der Form, daß ich eigentlich nur vorhatte, meinem Text einen musikalischen Rahmen zu geben und nicht vorhatte eine Band zu gründen, die dann das und das vorhatte. Demzufolge war dieser erste Output eigentlich schon die Geburtsstunde von Lacrimosa. Und eigentlich auch der Name Lacrimosa ist entstanden, als ich das Cover von der Kassette gemalt habe und die ersten Songs aufgenommen habe.
War „Seele in Not“ das aller erste Stück oder das „Requiem“?
TILO WOLFF: Seele in Not。
Kannst du dich noch daran erinnern, wie lange du dafür gearbeitet hast? Denn 9:21 Min sind ja nicht gerade ohne.
TILO WOLFF: Also ich hatte ja schon relativ klare Vorstellungen, als ich ins Studio gegangen bin, d.h., es war eigentlich nur eine Aufbereitung dessen, was ich im Vorfeld gemacht hatte, aber das Problem war natürlich, daß ich nur sehr begrenzt Geld hatte, sodaß also immer Zwangspausen gemacht werden mußte.
Du warst damals 19 Jahre alt, richtig?
TILO WOLFF: Ja, genau. Wenn da mehr Geld am Start gewesen wäre, wär das wahrscheinlich dreimal so schnell gegangen.
Ich würde gerne ein kleines persönliches Resummee ziehen. Nach 16 Jahren mit Lacrimosa sind meine persönlichen musikalischen Eckpfeieler Lacrimosas „Angst“, „Stille“, „Elodia“ und „Lichtgestalt“. Welche Alben siehst du als die Meilensteine von Lacrimosa an?
TILO WOLFF: Schwierig, weil ich da einen anderen Herangehenspunkt hab. Sei es jetzt der Grund, weshalb ich einen Song geschrieben hab oder was während der Produktion vorgefallen ist. Aber sicherlich ist auch „Angst“ und „Elodia“, wie von dir erwähnt, das sind sicherlich auch für mich Alben, die eine ganz besondere Rolle spielen. „Angst“ natürlich, weil´s das erste war und Lacrimosa damit begründet hat und mir auch im Prinzip das Fundament geboten hat, auf dem ich heute noch aufbauen kann. Es ist ja schon so, wenn man mit den ersten Dingen, die man gemacht hat, nicht einverstanden ist, dann ist es natürlich auch schwer, weiterzumachen. Und da ich mir nach so vielen Jahren immer noch das erste Album anhören kann, ist das ein gutes festes Fundament.
Von daher sicherlich für mich ein Meilenstein gewesen, genauso wie „Elodia“, wo ich mir die Produktion mit dem Londoner Symphony Orchester in den Abbey Road Studios gegönnt hatte. Für mich ist ganz besonders auch „Sehnsucht“ wichtig, weil das im Prinzip nach “Lichtgestalt”, die Höhepunkt und Resumee dessen, was ich bis dahin gemacht hatte war, eine Art Neustart gewesen ist, ähnlich wie bei „Angst“ oder „Inferno“. Es ist praktisch wie eine Art Zyklus: jedes 3. Album ist wie einmal den Reset-Knopf drücken. Und bei „Sehnsucht“ war es ganz besonders so, daß die Art und Weise, wie ich die Produktion und die Aufnahme durchgezogen habe, ganz konsequent so wie beim aller ersten Album „Angst“ vonstatten ging, und ich dadurch eine viel emotionalere Herangehensweise an das Album schon während der Produktion hatte und es dadurch eine Art neues Kapitel aufgemacht hatte.
Das ist auch der Grund weshalb das Cover von diesem Album auf der „Schattenspiel“ auf der 12 ist, ganz oben. Im Prinzip müßte ja das erste Album auf der 12 sein, das erste Album ist aber auf der 1, was genauso sinnig ist. Es ist aber auf der 12, weil um 12:00 Uhr beginnt der nächste Tag. Es endet ein Tag, aber es geht nahtlos über in den nächsten Tag, d.h. „Sehnsucht“ ist kein Schnitt in der Historie, sondern es sollte was Neues sein, demzufolge ist also „Sehnsucht“ auch eines meiner großen Meilensteine.
Gibt es irgendetwas was du rückblickend verändern würdest, anders gemacht hättest – sei es in Bezug auf Textinhalt, Arrangement oder Produktion im Allgemeinen – oder bist du gänzlich mit deiner Diskographie zufrieden?
TILO WOLFF: Im Großen und Ganzen ja. Natürlich gibt es hier und da ein paar Dinge, die ich mit dem produktionstechnischen Know-how, das ich mir im Laufe der Jahre erarbeitet habe, heute anders lösen würde, aber das sind dann auch Dinge wo ich denke, das paßt schon so wie es ist, es ist ein Zeitdokument. Genau wie das bei „Schattenspiel“ ist: natürlich hätte ich die Platte noch etwas aufpeppen können, damit die Songs schicker klingen, aber mir geht´s in erste Linie darum, daß die Dinge authentisch klingen. Und auch wenn ich manchmal beim Hören alter Sachen denk „Oh, das ist vielleicht nicht perfekt gelöst, ist es in dem Moment perfekt gelöst gewesen, aus meinem damaligen Kenntnisstand heraus, und dann paßt es auch.
Lacrimosa-Songs sind z.T. traditionell recht lang, teilweise schon mal bis zu 15 Minuten. Man könnte also den Eindruck gewinnen, daß ihr keinen Wert auf „Hitpotential“ legt, sondern eher der Anspruch und die Tiefe im Vordergrund stehen. Könntest du dir dennoch vorstellen, ein reines Album zu machen, mit Songs, die ähnlich wie „Alleine zu zweit“ oder „Feuer“ lediglich zwischen drei und fünf Minuten gehen oder schließt du das komplett aus?
TILO WOLFF: Nein, das kann ich nicht ausschließen. Weil ich ja nicht weiß, wenn ich jetzt komponier, wie lang soll dieser Song jetzt werden. Ich versuch der Musik immer genug Raum zu lassen, ich versuch der Musik selber zuzuhören und die Musik muß dann ihren Weg finden, also sprich: ich hab einen Text und versuch den musikalisch zu reflektieren. Und erst beim Komponieren merk ich eigentlich, wie diese Reflektion letztendlich vonstatten geht. Manchmal denk ich, daß der Song eine ganz bestimmte Richtung einschlägt, merke aber beim Komponieren, daß es in eine ganz andere Richtung geht und laß mich dann also auch so durchaus leiten. Wenn dann die Musik mehr Platz in Anspruch nehmen will, dann laß ich das zu. Demzufolge kann es durchaus sein, daß es mal ein Album geben wird, bei dem ich überall schnell zum Punkt kommen möchte und wo die Songs dann relativ kurz sind. Was aber auch in den letzten Jahren so passiert ist, wenn man mal die Songs so genau anschaut, hält es sich im Moment die Waage für mich, wenn ich so grob drüberschaue mit kurzen und längeren Songs.
Ja, bei “Sehnsucht” war es ja auch ziemlich ausgeglichen
TILO WOLFF: Genau. Es kann also sein, daß es so weitergeht, kann aber auch sein, daß die nächsten Songs wieder epischer werden. Es hängt auch immer davon ab, wie die Musik sich entwickeln möchte.
Also du planst es nicht, es kommt, wie es kommt.
TILO WOLFF: Genau.
Mit „Stolzes Herz“ habt ihr dennoch 1996 die Top Ten der Single Charts geknackt. Damals gab es noch keine Formate a la „The Dome“. Wenn man an Erfolge im Mainstream denkt wie Wolfsheims „Kein Zurück“ oder aktuell dem von Unheilig: stell dir vor du würdest einen ähnlichen Erfolg z.B. mit dem Song Lichtgestalt feiern und würdest eine Einladung zum Dome erhalten. Mit welchen Gefühlen würdest du darauf reagieren?
TILO WOLFF: Also erstens mal würde das nicht passieren, solche Einladungen kommen nicht, sondern sind mehr oder weniger erkauft. Ich meine hinter diesen Hits, die heutzutage in die Charts eingehen, da steckt ja eine gewisse Marketingmaschienerie dahinter, das passiert nicht einfach so. Und demzufolge weiß ich das genau, weil ich schon mit anderen Projekten zu tun hatte, die dort aufgetreten sind. Und ich weiß, wie dort die Auswahl stattfindet und wie viel man zahlen muß, um dort auftreten zu dürfen. Das würde also bei Lacrimosa a) gar nicht passieren und b) auch wenn jetzt so was auf Lacrimosa zukommen würde, würde ich es wahrscheinlich nicht machen, weil ich nie versucht habe, mit Lacrimosa in kurzer Zeit ein großes Publikum anzusprechen, sondern immer versucht hab, der Musik ihr Forum zu geben und dazu gehört die mögliche Auseinandersetzung mit Musik.
Zwischen Tür und Angel, das funktioniert bei Lacrimosa nicht. Und Außerdem… wenn man so eine Band entdeckt… man findet´s dann auch schön, wenn man so´nen exklusiven Status mit dieser Band hat und man findet´s nicht so geil, wenn jedes Handy in der Schulklasse mit dem Klingelton der Lieblingsband am Start ist. Und ich finde das ist man auch dem Publikum einer Band wie Lacrimosa, das schon so viele Jahre nun mit dabei ist, auch einfach schuldig. Also ich möchte jetzt nicht einfach den Kommerz abholen, nur weil´s ginge, sondern möchte da schon der Tradition – einerseits der Band Lacrimosa, andererseits der des Publikums – gerechtwerden.
Ihr galtet zusammen mit Deine Lakaien, Goethes Erben oder Umbra et Imago mit als Initiatoren des damals als sogenannte Neuen Deutschen Todeskunst bezeichnteten Genre Anfang der 90er. Die Erben sind passé, Mozart veröffentlicht dieses Jahr sein letztes Album. Wie siehst du diese Entwicklung dieser „Dinosaurier“? Verfolgst du dieses Aussterben jahrelanger Wegbegleiter oder schaust du nicht auf die Kollegen der „ersten Generation“ Anfang der 90er, sondern tangiert dich lediglich die Entwicklung Lacrimosas mit eigenem Anspruch und Fan-Gemeinde?
TILO WOLFF: Also natürlich bekomme ich das mit und finde es auch schade. Auf der anderen Seite versuch ich mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und nicht runterziehen zu lassen. Es hängt ja auch viel damit zusammen, daß die Bands nicht mehr weitermachen, nicht weil niemand mehr ihre Musik hören will, sondern weil das Musikbuisness sich dahingehend verändert hat, daß sogar musikinteressierte Leute halt einfach nicht mehr den physischen Tonträger kaufen, das dazu führt, daß die Bands kein Geld mehr haben, neue Tonträger produzieren zu können. Und demzufolge ist es eine sehr traurige Entwicklung, aber zumindest ist es nicht das fehlende Interesse an dieser Musikrichtung.
Der Begriff „Neue Deutsche Todeskunst“ war eigentlich ein Spaß. Ein Freund, der für den Zillo geschrieben hat, hat sich den Begriff eigentlich aus den Fingern gesaugt. Einerseits wollte er einen Anschluß an die Neue Deutsche Welle haben, andererseits wollte er es… naja nicht ins Lächerliche ziehen, aber er fand es ganz spannend, was da gerade passiert ist und weil das Ganze keinen Namen hatte, hat er sich das halt aus den Fingern gesaugt. Das ist ganz lustig: wenn ich in andere Länder komm, bekomme ich Fragen gestellt, wie: „Tilo, can you tell me something about the Neue Deutsche Todeskunst?“ Also das hat durchaus seine Kreise gezogen. Von daher hat sich weder Mozart noch Oswald, soweit ich das weiß, eigentlich keiner so wirklich damit identifiziert, sondern wir haben das alle natürlich nur so ein bißchen beschmunzelt. Was wir aber alle gemeinsam hatten, war die
Vision, der Szene einen neuen Input zu geben, weil sie ja wirklich kurz vorm Aussterben war, Ende der 80er. Und das ist natürlich etwas – ich glaube da geht´s den anderen Herrschaften genauso wie mir – worauf wir stolz und glücklich sind und dankbar, daß es auch so funktioniert hat, weil ohne die paar Nasen, die damals gesagt haben: „Wir machen jetzt was“, hätte sich die Szene in Deutschland, aber auch international, ganz anders entwickelt. International was Bands anbelangt, die ins Ausland gekommen sind, wie z.B. Lacrimosa, die die erste Gothic Band überhaupt war, die jemals in Lateinamerika und Asien live aufgetreten ist. D.h., daß Gothic nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit über eine Band wie Lacrimosa verbreitet werden konnte. Aber auch internationale Bands konnten so nach Deutschland geholt werden, wie z.B. The Mission oder einige, die international nicht mehr so das große Standing hatten: Fields of the Nephilim usw. und aufgrund des aufkommenden Genres in Deutschland sich wieder zusammengetan haben und neue Platten aufgenommen haben. Wobei ich das jetzt mal ohne Wertung in den Raum stellen möchte, ob das jetzt immer gut oder schlecht war (lacht).
In diesem Zusammenhang, wo wir gerade über Oswald Henke und Goethes Erben sprachen: Oswald veröffentlicht ja keine physischen Tonträger mehr, mit Fetisch: Mensch gab es als Kompromiss, zumindest ein Download-Album für die Hörer anzubieten. Unabhängig wie gut oder schlecht es der Musikindustrie nun gehen möge: ich kann mir nicht vorstellen, daß ein solcher Verkaufsweg für euch in Frage kommt, zumal du seit jeher betonst, daß die 3. Säule bei Lacrimosa neben der Musik und dem Text das Thema Artwork ist, also die Gestaltung eines Booklets ein ebenso wichtiger Bestandteil ist. Kein physisches Lacrimosa-Produkt mehr zu erwerben ist für mich unvorstellbar – liege ich da richtig?
TILO WOLFF: 100 Prozent!
Gut, bedarf keiner weiteren Worte, hm?
TILO WOLFF: Nee, eigentlich nicht.
Ich würde gerne auf das „Sehnsucht“-Album zu sprechen kommen. Warum wurde die Special Edition mit einigen abgeänderten Versionen der Songs eures aktuellen Studioalbums als separates Release veröffentlicht? Warum keine Limited Edition mit Bonus-CD?
TILO WOLFF: Weil die Grundidee für die Special Edition gar nicht mal die Musik, sondern das Artwork war. Das schließt im Prinzip direkt an deine Frage zuvor an, wie wichtig das Artwork für Lacrimosa ist. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich mit Stelio Diamantopoulos zusammensaß, der für uns die Cover zeichnet, und ich ihm meine Ideen und bescheidenen Skizzen gezeigt hab. Ich sagte ihm, daß ich am liebsten hätte, daß dieses Feuer wirklich brennen würde. Aber wir machen nunmal die Cover seit jeher in schwarz-weiß, also mach das ganze Ding in schwarz-weiß, das war meine Ansage. Dann hat mich diese Idee aber einfach nicht losgelassen und als er mir das fertige Cover präsentiert hat, konnte ich eigentlich nicht anders und hab gesagt, daß wir zwei Versionen machen.
Und in dem Moment hab angefangen, die unterschiedlichen Songversionen , die ich hatte, mir noch einmal anzuschauen und habe mir überlegt, macht´s eigentlich Sinn, eine zweite Version rauszubringen? Weil das „Schwarz-Weiß-Album“ muß sowieso rauskommen, ich kann und will die Linie ja nicht einfach brechen. Also wollte ich nicht einfach nur eine zweite Version mit anderem Artwork, sondern wenn eine zweite Version rauskommt, dann sollte auch der Inhalt ein anderer sein. Es muß mehr Anreiz für den Käufer sein als einfach nur ein zweites Artwork zu bekommen. Und dann haben wir daraufhin einige der bereits fertig variierten Versionen, die ich aber eigentlich nicht veröffentlichen wollte, aufgenommen. Von einigen Songs habe ich komplett neue Versionen geschrieben, respektive eingespielt. Dann haben wir nicht nur das Cover farbig gemacht, sondern auch das gesamte Booklet farbig gemacht. Also auch Fotos oder Bilder, die wir im Original in s/w fotographiert haben, haben wir da eingefärbt. Wir haben uns also da nochmal rangesetzt, um ein wertiges neues Produkt hinzubekommen.
Die EP „I lost my Star“ wurde exlusiv für den russischen Markt veröffentlicht – kann der hiesige Lacrimosa-Fan auch mit einer VÖ rechnen oder ist er gezwungen, den Weg über eBay zu gehen?
TILO WOLFF: Es gibt die EP nicht im Handel, aber man kann diese bei uns im Hall of Sermon-Shop bestellen.
Apropos „I lost my Star in Krasnodar“: auf der EP befindet sich eine exklusive Version, bei der du eine Passage auf russisch intoniert hast. Wie viele Anläufe hast du dafür gebraucht?
TILO WOLFF: (lacht) Ey ich kann dir sagen, russisch ist echt nicht einfach! Das war ganz geil, weil unser russischer Promoter hat uns auf MP3 aufgenommen und uns genau darauf hingewiesen, wie die russische Aussprache ist. Und von daher konnten wir dann schon ein bißchen üben, aber es hat schon einen ganzen Nachmittag gedauert, bis er dann mit der Version zufrieden war, die ich ihm dann rübergeschickt hab. Er meinte sogar, man versteht es sehr gut und er sagte, daß es angebracht sei, zukünftig meine Ansagen in Russland auf russisch zu machen, aber das ist mir dann doch etwas zu heftig. (lacht)
Ihr habt neben den Stones und den Black Eyed Peas als einzige westliche Band in China Konzerte spielen dürfen… Ich habe auf eurer Homepage den aktuellen Tourplan gesehen, der derzeitig 6 Konzerte in Russland vorsieht, u.a. natürlich in Krasnodar. Bleibt es für Deutschland tatsächlich beim WGT zum 20 Jährigen oder kommt da noch was?
TILO WOLFF: Nee, da kommt noch einiges. Für Deutschland wahrscheinlich nicht mehr so viel, aber was Russland betrifft, wird es wahrscheinlich durch die baltischen Staaten gehen. Dann wieder nach Asien und abschließend nach Lateinamerika. Eventuell wird es danach doch nochmal ein bis zwei Konzerte in Europa oder Deutschland direkt geben, aber nächstes Jahr wird es dann voraussichtlich wieder eine Deutschland-Tournee geben.
Das hört sich gut an!
TILO WOLFF: Joa, weißt du, das ist halt auch so… natürlich bin ich gerne im Ausland unterwegs. Und es ist großartig in Länder zu kommen, die man sonst nur aus dem Fernsehen und aus dem Geschichts- oder Geographieunterricht kennt und dort die Kulturen und die Menschen kennenlernen kann, v.a. aber auch zu erleben, wie die unterschiedlichen Kulturen auf die eigene Musik reagieren. Aber auch weil wir so viel in anderen Ländern unterwegs sind, ist es dann auch ganz speziell in Deutschland auf der Bühne zu stehen. Auf der letzten Deutschlandtournee hatte ich das Gefühl, im Privaten, im Familiären zu sein. Jetzt ist man ja wieder zu Hause, man ist quasi wieder unter sich. Das ist schon ein sehr schönes Gefühl, zumal wir ja direkt davor im Prinzip einmal um die ganze Welt gereist waren und dann nach Deutschland zurückzukommen, das war sehr schön. Und deshalb ist es mir schon wichtig, entweder dieses Jahr oder nächstes Jahr wieder eine richtige Deutschland-Tour machen zu können.
Ash erkennen kann. Wenn du ehrlich bist? Bist du ein wenig von der Gesellschaft in Deutschland enttäuscht, daß ihr hierzulande nicht die Aufmerksamkeit erhaltet, die ihr meiner Meinung nach verdient hättet?
TILO WOLFF: Ach naja, man muß dabei zwei Dinge beachten. Erstens Mal ist Deutschland ein sehr kommerzieller Musikmarkt. Einerseits in den Clubs, andererseits was die Veröffentlichungsflut anbelangt. Hier sieht der Markt ganz anders aus als in anderen Ländern. Ich kann mich z.B. noch daran erinnern, daß es verpönt war, daß in den 90ern in den Clubs nur Electro lief. Das war zu der Zeit, als die Love Parade noch ein großes Thema war und in vielen Clubs überhaupt kein Electro gelaufen ist, weil man sich klar abgrenzen wollte von Techno.
Bis der Future Pop kam…
TILO WOLFF: Genau. Gitarrenmusik usw hört man ja eigentlich kaum noch. Das ist irgendwie auch so eine etwas widersprüchliche Entwicklung… Du kannst ja mal einen Test machen. Geh doch mal am Wochenende in einen Dark Club auf die Tanzfläche und frag mal die Leute auf was sie da gerade tanzen. Ich würde mal schätzen, von 10 Leuten kann dir einer sagen, was da gerade läuft.
Das kann sein. Oder sie können es mir sagen, weil es immer die gleichen üblichen Verdächtigen sind, die gespielt werden, das kann natürlich auch sein.
TILO WOLFF: Ja, eben. Das ist so eine Entwicklung in der Underground-Szene, die halt absolut 1:1 mit der kommerziellen Disco-Partyszene einhergeht. Das ist das Eine und das Andere ist, daß wir in Mitteleuropa nicht so die „Emotionsfreaks“ sind sozusagen. Ich meine, die russische oder die südamerikanische oder lateinamerikanische Seele… oder sagen wir mal so: der Großteil der menschlichen Bevökerung hat ein ganz anderes Umgehen mit den eigenen Emotionen und in den meisten Kulturen gehört die Emotionswelt, gehören die Gefühle zum täglichen Leben respektive sind Ausdruck der persönlichen Stärke, der emotionalen Stärke. Man ist stolz auf seine Emotionalität. Während in Mitteleuropa – speziell in Deutschland, Schweiz, Österreich – ist man ja doch eher nüchtern und das ist natürlich ein großer Grund, warum Lacrimosa dort gar nicht auf so fruchtbaren Boden fällt, weil Lacrimosa nunmal sehr emotionale Musik ist.
Inwiefern haben 20 Jahre Musikerdasein Einfluß auf den Privatmenschen Tilo Wolff gehabt?
TILO WOLFF: Im Prinzip, dadurch daß Lacrimosa so ein enormer Teil meines Lebens geworden ist, hat mich das natürlich schon sehr geprägt. Auf der anderen Seite auch deswegen, weil Lacrimosa ja nicht nur einfach ein Beruf ist, dem man hinterhergeht oder ein Hobby, das man ausübt, sondern die direkte Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben. Lacrimosa hat ja damit begonnen, daß ich meine Gedanken in Textform aufgeschrieben hab. Also Prinzip wie wenn man den Hörer abnimmt und mit einem Freund oder einer Freundin quatscht und mitteilt, wie man gerade empfindet. Oder wie andere z.B. ein Tagebuch schreiben, so hat das eigentlich mit Lacrimosa begonnen. D.h. Lacrimosa ist die direkte Auseinandersetzung mit meinem eigenen Ich.
Das Innere nach Außen kehren, was du immer wieder betont hattest.
TILO WOLFF: Genau. Demzufolge gibt es natürlich auch eine Wechselwirkung. Es gibt nicht nur den Impuls von mir zu Lacrimosa, sondern auch von Lacrimosa zu mir. Und da gibt´s natürlich Impulse sowohl im Positiven wie auch im Negativen, mit denen ich leben darf und leben muß. Natürlich waren die gesamten 20 Jahre mit Lacrimosa sehr prägend und haben mich als Mensch in eine ganz andere Richtung entwickeln lassen, als daß es der Fall gewesen wäre, wenn ich mich anderweitig betätigt hätte.
Wo wärst du denn ohne Lacrimosa?
TILO WOLFF: Entweder wäre ich irgendwo in der Filmbranche tätig, oder… [Pause] Ich wär wahrscheinlich nicht mehr am Leben, weil ich meine Exzessivität nicht in künstlerische Bahnen gelenkt hätte, sondern gegen mich selbst gerichtet hätte.
Kommen wir zum Jubiläumsalbum „Schattenspiel“: Daß es so viele unveröffentlichte Stücke geben würde, hätte ich nicht gedacht. Warum mußten die Songs erst warten, bis ihr 20 Jahre jung werdet, um das Licht der Welt erblicken zu dürfen?
TILO WOLFF: Im Prinzip hätten all die Songs, die hier zu hören sind, nie gehört werden dürfen. Eigentlich hätten die nie veröffentlicht werden sollen. Und zwar in dem Moment, wo ich mich damals dazu entschieden habe, einen Song nicht zu veröffentlichen, hatte das natürlich seinen Grund. Es ist natürlich so, daß diese Gründe aus der damaligen Zeit stammen und nicht immer noch eine allgemeine Gültigkeit haben. Beispiel: Ein Titel wie „Schuld und Sühne“, den ich damals geschrieben hab, weil ich nach „Requiem“ und „Seelenübertritt“ in eine Art Loch gekommen bin, eigentlich nach „Requiem“. Ich wußte, es war zwar erst der zweite Titel, den ich überhaupt komponiert habe, aber ich wußte ja nicht, ob ich überhaupt Musik machen kann, ob ich Musiker werden kann respektive wie viel Musik ich komponieren kann.
Ich hatte also nach „Requiem“ das Gefühl, ich hab alles musikalisch zum Ausdruck gebracht, was ich jemals komponieren könnte, es gibt nichts mehr Weiteres für mich. Für mich lag dieses kleine kompositorische Zimmer, in dem ich mich befand, im Dunkeln. Ich hab keine Türe und keine Fenster mehr gesehen und wollte das natürlich aber nicht wahr haben, daß es jetzt vorbei ist. Dehalb habe ich versucht, was ganz anderes musikalisch zu machen. Zwar mit der selben Intention, also einen Text musikalisch zum Leben zu erwecken, aber musikalisch in eine ganz andere Richtung zu gehen. Ich wollte sehen, ob ich überhaupt fähig bin, weiterhin Musik zu machen, aber ganz klar gelöst von dem, was ich davor gemacht hab. Als ich dann gemerkt habe, das funktioniert, hatte ich diese Nummer: „Schuld und Sühne“. Was sollte ich jetzt machen? Das ist natürlich eine Musik gewesen, die musikalisch nicht zu dem gepaßt hatte, was ich eigentlich machen wollte, aber trotzedem hab ich dieser Nummer das Überleben von Lacrimosa zu verdanken.
Also im Prinzip war diese Nummer wie ein Stützpfeiler in einem Rohbau. Und dieser Stützpfeiler mußte dort stehenbleiben, sonst wäre das ganze Ding zusammengefallen. In den Jahren hab ich weitergebaut, das Haus Lacrimosa ist stabil und groß geworden und dieser Stützpfeiler Lacrimosa stand jetzt da rum… Beim Zusammenstellen von „Schattenspiel“ hab ich dann gemerkt: Meine Güte, da steht ja immer noch dieser Stützpfeiler rum, den kann ich längst herausziehen, das Haus wird deswegen nicht zusammenbrechen – jetzt kann ich´s veröffentlichen. Also das ist im Prinzip so ein Beispiel was für eine enorme Bedeutung so ein Titel damals für Lacrimosa hatte und wahrscheinlich sogar über das Überleben von Lacrimosa mitentschieden hat, aber es unmöglich war, diesen Titel damals zu veröffentlichen, weil er einfach dann als Stützpfeiler nicht mehr fungiert hätte, sondern Teil des Bauwerks geworden wäre und damit das Bauwerk in sich zusammengefallen wäre, weil ich hier einfach kein tragendes Element mehr gehabt hätte.
Nach all den Jahren aber hab ich gemerkt, daß das damals richtig gewesen ist, ihn nicht zu veröffentlichen. Heute ist es gar nicht mehr richtig, daß der Song nicht veröffentlicht werden kann. Lacrimosa kann es gut aushalten – und ich als Komponist auch – wenn der Song veröffentlicht wird. Und so hat wie gesagt jeder Song seine eigene Geschichte und im Booklet in diesem Album habe ich jedem Song eben genau diese Geschichten aufgeschrieben, damit man eben erfahren kann, warum zum Teufel wurde ein Song damals nicht veröffentlicht, aber warum wird er jetzt plötzlich veröffentlicht.
Das heißt „Seelenübertritt“ war der dritte Song, den du geschrieben hast?
TILO WOLFF: Genau, „Seelenübertritt“ist der dritte Song gewesen, ist im Prinzip „Requiem Teil 2“ und „Schuld und Sühne“ war dann der vierte Song.
Was empfindest du nun, nachdem du dieses Geheimnis gelüftet hast? Ich glaube nicht, daß es so viele Menschen gibt, die davon gewußt haben, daß es da noch solch eine hohe Anzahl an Tracks gibt, die bislang geheimgehalten wurden.
TILO WOLFF: Vor 10 Jahren, zum 10-jährigen Jubiläum, hab ich mir auch schon mal Gedanken darüber gemacht, unveröffentliche Titel zu veröffentlichen, aber damals habe ich mich nicht getraut. Und das zeigt im Prinzip, wie ich zu diesem Album stehe. Ich sehe der Sache heutzutage relativ gelassen entgegen, weil ich einerseits – und deshalb hab ich die wie gesagt nicht „aufgehübscht“ – als Komponist und als Produzent genügend Selbstbewußtsein hab, um Dinge zu veröffentlichen, ohne mich sozusagen daran messen zu müssen, wieder irgendwelche Standards setzen zu müssen.
Ich hab auch kein Problem damit, wenn jetzt jemand sagt: „Oh, das klingt aber sehr nach Demo“, dann ist das so, weil die Songs eben so entstanden sind. Und auf der anderen Seite freue ich mich riesig über die Veröffentlichung, weil einige dieser Song Bestandteil meiner eigenen Playlist sind. Titel wie „Morgen“ oder „Déjà Vu“, das sind Lieder, die mir sehr ans Herz gewachsen sind, die ich immer wieder auch privat hör. Und jedes Mal dachte ich beim Hören: „Schade, daß ich der einzige bin, der das hört.“
Oder manchmal, wenn dann Freunde da sind: „Wenn du noch ein paar Minuten Zeit hast, dann zünd dir noch eine Zigarette an, ich spiel dir noch eine Nummer vor“. Das war dann auch alles. Und deswegen freu ich mich, daß ich die Songs jetzt endlich mal teilen kann mit dem Publikum, Reaktionen darauf bekomme und natürlich: die auch auf der Bühne spielen kann, denn bis jetzt konnte ich das ja nicht, da sie niemand kannte.
Werden wir davon beim WGT etwas von hören können?
TILO WOLFF: Wir werden einige Songs davon spielen, ja.
Sind das auf “Schattenspiel” nun alle unveröffentlichten Titel oder gibt es zum 25. Jubiläum eine Fortsetzung?
TILO WOLFF: Nee, das ist im Prinzip alles, was im Archiv an fertigen Dingen lag. Es gibt noch ein paar unvollendete Sachen, aber die sind auch aus gutem Grund unvollendet. Wenn ich mal aus irgendeinem Grund das Interesse an einem Song verlassen hab, dann hab ich offensichtlich nicht den Kern getroffen. Also das was man hier hört komplettiert die Geschichte von Lacrimosa bis zum heutigen Datum.
Auf „Sellador“ sind Elektronik-Parts zu hören. Eine Ausnahme oder ist es ein Wink mit dem Zaunpfahl auf das, was kommen wird?
TILO WOLFF: Das weiß ich ehrlich gesagt noch gar nicht genau. Ich hab ja sehr viel Material durchgehört, um all diese Songs aus dem Archiv für dieses Album zu finden. Also nicht nur die, die jetzt auf dem Album sind, sondern sehr viel Unveröffentlichtes und Demoaufnahmen usw., was mich an die alte Zeit damals erinnert hat, auch wenn es nicht für das damalige Album relevant war. Das einerseits und andererseits, weil ich in all den Jahren auch mal hier, mal da als DJ unterwegs war, hat mich so ein bißchen dazu gebracht, „Sellador“ ein bißchen elektronischer zu produzieren und damit ein bißtchen den Bogen zu den Anfangstagen von Lacrimosa zu schließen, da ja Lacrimosa als komplett synthetische Band sozusagen begonnen hat, auch wenn es keine Electro-Band war.
Und wie das weitergeht, weiß ich gar nicht. Ob ich in Zukunft mehr elektronische Dinge machen werde innerhalb Lacrimosas oder nicht, hängt ein bißchen davon ab, welche musikalische Sprache ich verwenden will. Es gab ja zwischendurch auch immer mal wieder Elektronikausflüge, wie z.B. „Promised Land“, das 2001 erschienen ist und hier und da mal einen Remix. Also von daher kann es sein, aber ich könnte jetzt nicht sagen, daß sich das neue Album in diese Richtung entwickeln wird. Wahrscheinlich werden es eher die Ausnahmen bleiben.
Am 7. Mai gibt´s dann abends einen Rotwein, nehm ich an.
TILO WOLFF: Jaaaaa。
Zelebrierst du diese Tradition am Abend der Albumveröffentlichung seit Anbeginn oder wann hat das angefangen?
TILO WOLFF: Nee, nicht sein Anbeginn. Wenn ich mich recht entsinne, dann war das bei der „Echos“ oder bei der „Fassade“, ca. so in dem Dreh rum, hatten wir damit angefangen. Inzwischen ist das natürlich schön, weil das wirklich weltweit zelebriert wird. Die Leute stellen sich dann auch ihren Wecker, wenn´s nicht zu ihren normalen Uhrzeiten ist und stehen dann eben mitten in der Nacht bei sich zu Hause auf, richtigen ihren Tagesablauf darauf ein, um dann zu der gewissen Zeit, wenn es bei uns losgeht, am Start zu sein, das ist echt schön. Das ist echt eine schöne Tradition!
Die Idee dazu war ja, wie ein verliebtes Pärchen, das kilometerweise von einander entfernt ist und zur gewissen Zeit den Mond betrachtet und dadurch verbunden ist. Und so ist die gesamte Lacrimosa-Welt zur gleichen Zeit – nicht über den Mond, aber über die Musik – miteinander verbunden und ich muß auch ganz ehrlich sagen – vielleicht ist es Einbildung, aber – ich bin dann immer sehr dünnhäutig in dem Moment, sehr sensibilisiert. Ich meine zu spüren, daß uns dort wirklich ein paar gute Gefühle entgegenkommen.
Und wenn man kein Weintrinker ist, ist es sicher erlaubt, daß man einem Likör um diese Uhrzeit mittrinkt, oder?
TILO WOLFF: (lacht) Natürlich! Früher habe ich das mit Whiskey gemacht. Das Getränk ist dabei völlig nebensächlich.
Mit dem London Symphony Orchestra auf „Elodia“ hast du dir damals einen Traum erfüllt, der dich fast in den wirtschaftlichen Ruin gebracht hätte. Was hast du noch für Träume, die du musikalisch realisieren könntest und möchtest?
TILO WOLFF: Um ehrlich zu sein: ganz bescheidene im Moment. Wir hatten vorhin darüber gesprochen wie sich die Musiklandschaft entwickelt hat und wir hatten auch darüber gesprochen wie wichtig Lacrimosa für mich in meinem Leben geworden ist. Mein Traum ist es, weiterhin Musik machen zu können. Einerseits Musik machen zu können in der Form, daß ich weiterhin mit Orchester, mit Band und mit diesem enormen Produktionsaufwand und Standard arbeiten kann, und andererseits in dieser Freiheit, unabhängig zu sein, ohne externe Plattenfirma, ohne Produzenten. Also weiterhin die Musik genau so machen zu können, wie ich es mir vorstelle.
Das ist ja nicht mehr alltäglich heutzutage.
TILO WOLFF: Genau, eben! Um ehrlich zu sein, ich kenne keine andere Band, die so eine künstlerische Freiheit genießen kann. Ja und damit auch weiter auf Tournee gehen zu können. Also ich habe gar nicht so spezielle Wünsche, so auf dem Mond zu spielen oder so, sondern einfach nur weiter in Freiheit Musik machen zu dürfen, das ist mein Traum.
„Die Strasse der Zeit“, „Dich zu töten fiel mir schwer“, „Fassade 3. Satz“ oder „Kelch der Liebe“ wären prädestiniert für eine orchestrale Live-Umsetzung. Nachdem Bands wie Schandmaul oder die Lakaien bereits mit Live-Orchester gearbeitet haben: Wann können wir das bei Lacrimosa endlich erleben? Beim WGT 2007 sagtest du mir: „Dafür würde ich wohl extra ein Album schreiben“. Wie weit bist du mit diesen Überlegungen?
TILO WOLFF: Also zunächst mal gibt es derzeit keine Überlegungen, ein derartiges Album zu schreiben, weil ich sehr erfüllt bin mit dem, was ich musikalisch gerade mach. Zum Zweiten gibt es nach wie vor keine Pläne, mit einem Orchester auf die Bühne zu gehen, weil das Problem ist einfach das: Ich gehe ins Studio und erschaffe dort Musik. Das passiert aber fokussiert auf die Aufnahme, das festzuhalten und aus dem Studio nach außen tragen zu können.
Wenn ich aber auf die Bühne gehe, dann möchte ich frei sein. Dann möchte ich mich nicht an die Noten halten müssen, die im Studio natürlich wichtig sind. Gerade wenn man mit Orchester arbeitet kann man nicht improvisieren, kann man nicht einfach im Studio anfangen, alles umzuschmeißen, sondern man muß schon dem folgen, was man komponiert hat. Und auf der Bühne möchte ich frei sein, das ist ein Live-Konzert, das muß lebendig sein. Ich möchte eine Rock-Show machen im Prinzip und kein Theaterstück, bei dem jeden Abend der gleiche Text feststeht und wo ich jeden Abend im gleichen Moment am gleichen Platz stehe usw. Das alles will ich auf der Bühne vermeiden, weil ich ein Konzert nicht als Theaterstück, sondern als Dialog zwischen Publikum und Band seh. In dem Moment wo man mit Orchester auf die Bühne geht, kann das Publikum keinen Einfluß mehr auf die Show ausüben und du als Musiker natürlich auch nicht mehr, wenn man genau das, was man geprobt hat, 1:1 runterspielen muß.
Du spielst jetzt auch ein Stück weit auf deine Improvisation an, die du ja durchaus an den Tag legst. „Seele in Not“ sei jetzt nur als Beispiel genannt.
TILO WOLFF: Genau! Solche Dinge wären dann plötzlich nicht mehr möglich, weil man ist in einem Schema eingespannt, in dem ich mich auf der Bühne einfach nicht wohlfühle, weil ich gerade im Studio ganz konzentriert vorgehen muß. Kann natürlich für andere Musiker ganz anders sein, die mit der Produktion im Studio gar nicht so viel zu tun haben. Der Gitarrist, der seine Parts einspielt und dann wieder nach Hause geht, der Sänger, der irgendwas einsingt usw, aber nicht von A-Z für alles verantwortlich ist und die Kontrolle halten muß. Genau diesen Verlust der Kontrolle such ich ja auf der Bühne. Und das würde mir das Orchester nicht verzeihen, es würde in ein heilloses Chaos ausarten. Und deswegen, obwohl ich es verstehen kann, daß das Publikum denkt, Lacrimosa wäre prädestiniert mit Orchester auf die Bühne zu gehen, ist es für mich selbst relativ unspannend.
Vielleicht wird es tatsächlich irgendwann mal passieren, wenn ich vielleicht wirklich mal etwas dafür komponiert hab, wie ich damals schon sagte, und dann ja auch einen ganz anderen Fokus darauf hab. Weil ich ja dann speziell das Orchester auf der Bühne im Fokus hab. Oder weil ich vielleicht einfach irgendwann einmal nicht mehr in der Lage wäre, sei es vom Alter her, ich meine wir haben nun 20 jähriges Jubiläum. Wenn es denn nochmal 20 Jahre geben würde, käme ich tatsächlich in ein Alter, in dem ich mir überlegen müßte, ob es überhaupt noch möglich ist, auf der Bühne so rumzuspringen. Demzufolge wäre das dann vielleicht was, wo ich froh wäre, wenn ich in der Ecke sitzen kann und dirigieren kann und das Orchester macht den Rest.
Also du willst dir die Freiheit nicht nehmen, aus dem Rahmen nicht ausbrechen zu dürfen, kann man so sagen, ne?
TILO WOLFF: Ganz genau.
Freiheit ist noch ein gutes Stichwort. Viele Bands, dazu zählt ihr ja auch dazu, haben sich die Freiheit nicht nehmen lassen, neue Energie zu tanken, indem sie Seitenprojekte ins Leben gerufen haben, um den Kopf frei zu bekommen. Du hast 2004 und 2006 mit Snakeskin dich ziemlich harter Elektronik bedient, was von dir wahrscheinlich niemand erwartet hätte. Wird Snakeskin eine Fortsetzung erfahren oder könntest du dir auch vorstellen, mit einem gänzlich anderen Seitenprojekt in einem widerum anderen Musikstil um die Ecke zu kommen?
TILO WOLFF: Also es wird von Snakeskin auf jeden Fall eine Fortsetzung geben. Wenn wir nicht so lange auf Tour wären, dann hätte ich da auf jeden Fall auch schon ein neues Album am Start.
Also Ideen hast du schon?
TILO WOLFF: Genau, ja. Das ist immer ein bißchen blöd, weil´s einem so unter den Fingern brennt, aber Lacrimosa halt auch und dann muß man abwägen, was man als erstes macht. Aber es wird auf jeden Fall mit Snakeskin weitergehen. Aber das dauert noch ein bißchen. Es gibt und gab ja auch andere musikalische Projekte, die ich im Moment alle ein bißchen auf Eis gelegt hab. Teilweise ist es durchgesickert, wo ich beteiligt war, teilweise ist es auch nicht durchgesickert. Das heißt, es gibt auch andere Projekte, wo ich tätig bin. Das ganze Spektrum deckt eigentlich im Moment alles ab, was mich musikalisch interessiert und was ich machen möchte, sodaß ich jetzt im Moment nicht vorhabe, noch ein zusätzliches Projekt zu gründen, aber wer weiß was in einem halben Jahr ist.
Gibt es aus dem musikalischen Bereich jemanden, mit dem du gerne einmal zusammenarbeiten würdest? Nicht Remix-mäßig, sondern als Duett? Du hattest damals dieses „Endorama“-Ding gehabt mit der Band Kreator, gibt´s hier irgendwie nochmal irgendwelche Überlegungen?
TILO WOLFF: Also ich würde jederzeit gerne wieder mit Mille von Kreator arbeiten. Es gibt jetzt nicht unbedingt den einen Künstler, von dem ich sag, das müßte ganz besonders sein, mit ihm zu arbeiten. Also… es gibt… ja, jein, doch, ja. Also ich hab mir nicht konkret Gedanken darüber gemacht, aber während ich gerade deine Frage so im Kopf hin- und herballancieren laß, es gibt sicherlich schon einige Bands, mit denen es spannend wäre, mal mit ihnen arbeiten zu können. Aber es ist natürlich auch immer die Frage: inwieweit kann man sich wirklich einbringen, inwieweit überschneidet man sich eher?
Es ist ja auch oftmals so, daß wenn ambitionierte Menschen zusammenarbeiten, sie sich eher gegenseitig auf den Füßen rumtrampeln. Also von daher muß das nicht immer ein gutes Ende haben. Was sicherlich immer speziell ist, ist wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, die aus einem ganz anderen Umfeld kommen, wo es eigentlich auf den ersten Blick überhaupt keine Schnittmengen gibt und die Liebe zur Musik die verbindende Schnittmenge ist. Das ist natürlich immer spannend, weil dann kann jeder so viel einbringen, ohne dem anderen irgendwas wegzunehmen.
Ja das ist ein gutes Stichwort: Schiller ist ein gutes Beispiel, bei dem es Zusammenarbeiten mit Heppner, Veljanov oder Anke Hachfeld gegeben hat, bei denen es auch eigentlich keine Schnittmengen gibt, aber es trotzdem sehr gut funktioniert hat. Das fand ich sehr interessant zu sehen, wenn man aus völlig unterschiedlichen Genres kommt, aber gemeinsam etwas völlig Frisches und Fruchtbares dabei fabriziert.
TILO WOLFF: Genau. Ja, solche Sachen sind spannend, wenn da wirklich zwei Welten aufeinander prallen.
Was erwartest du von den nächsten 10 Jahren von deinem Baby Lacrimosa? Wohin wird die Reise gehen, was kann sich der Fan der 1. Stunde erwarten und worauf können wir uns alle gemeinsam freuen?
TILO WOLFF: Also weil ich ja Lacrimosa immer analog meiner persönlichen Entwicklung mache, weiß ich noch nicht wie es musikalisch konkret weitergeht, aber eines zeichnet sich ganz klar in den letzten Jahren ab: daß ich in beiden Extremen immer intensiver werde, sprich: die emotionalen Passgen werden emotionaler und die härteren Sachen werden härter, werden kompromißloser. Die emotionale Dynamik wird sozusagen größer. Ich denk, daß es in der Richtung weitergeht. Auf jeden Fall wird Lacrimosa nicht seichter, sondern eher intensiver in der kommenden Zeit.
Was sich im Prinzip aus zwei Komponenten zusammensetzt: einerseits wachsendes Know-how mit jedem Song, mit jeder Produktion lernt man dazu und kann die Sprache Musik besser nutzen. Auf der anderen Seite: je älter man wird, desto mehr kann man sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren und das ablenkendste Beiwerk, jetzt gar nicht mal unbedingt auf die Musik bezogen, sondern zunächst einmal allgemein, lenkt einen nicht mehr so sehr ab. Man kann sich mehr auf das Wesentliche konzentrieren und läßt sich nicht mehr so schnell einfangen von irgendwelchen Nebengeräuschen.
Und das widerum hat natürlich einen positiven Effekt auf jeden Künstler, auf die künstlerische Tätigkeit. Wenn man mal auf Bildhauer, Maler, Komponisten oder Schriftsteller schaut: je länger die tätig waren, desto intensiver wurden sie. Desto mehr haben sie sich auf das Wesentliche konzentriert, auf das, was sie zum Ausdruck bringen wollten. Ich habe den Eindruck, daß diese Entwicklung auch gerade bei mir und bei Lacrimosa stattfindet. Das läßt mich mit Freude in die Zukunft blicken.
Zum Schluß seien die letzten Worte wie immer dem Künstler gegönnt. Unser Motto ist „It´s all about guude Laune“. Was möchtest du den Lesern noch gerne sagen?
TILO WOLFF: Naja, also zunächst einmal: gute Laune natürlich! Daß ich voller guter Laune bin, das 20-jährige Jubiläum erreichen zu können. Und daß mir sehr wohl bewußt ist, daß ohne Publikum, das die Platten kauf und zu den Konzerten kommt, so ein Jubiläum nicht möglich wär, sprich Lacrimosa würde es nicht mehr geben ohne die Leser und ohne die Hörer von Lacrimosa.
Demzufolge: Vielen Dank für die Treue über all die Jahre und für die Geduld mit dem nicht immer ganz einfachen Produkt Lacrimosa und daß ich natürlich hoffe, daß ich das Vertrauen, daß viele Menschen Lacrimosa entgegenbringen, auch in Zukunft nicht enttäuschen werde. Ich werde mir auf jeden Fall jede Mühe geben, mich weiterhin mit ganzem Herzen und voller Hingabe dem zu widmen, was ich mit Lacrimosa zum Ausdruck bringen möchte.
Herzlichen Dank für das Interview, Tilo.
TILO WOLFF: Ich danke dir und wünsche dir noch einen schönen Abend.
2010, Madgoth.de
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