Hallo, Tilo. Euer achtes Album Echos ist sehr kompositorisch ausgefallen, wieder einmal. Wechselt ihr jetzt vom Gothic- ins Klassiksegment?
TILO WOLFF: Ich persönlich sehe eigentlich keine Barrieren zwischen Gothic oder Klassik, wobei man eigentlich dazu sagen muss, Klassik war ja nur eine sehr kurze Epoche… möchte dort eigentlich keine großen Barrieren sehen, wie auch auf dem Album teilweise Einflüsse aus der Renaissance, aus dem Barock, aus der Klassik und der späteren Romantik zu hören sind, sondern ich möchte meine Gefühle in Musik leiten lassen und aus der sehr ausgeprägten Liebe für Orchesterinstrumente haben sie… diese sich auf diesem Album ziemlich breit gemacht einerseits und andererseits ist es auch ein Album, das thematisch diese Instrumentierung… diese Umsetzung geradezu fordert, meiner Meinung nach. Ich kann diese Texte, diese Songs nicht anders begreifen oder nicht anders umgesetzt sehen als ich sie jetzt so auf Echos gemacht habe.
Es kann sein, dass wir uns in der Zukunft wieder vielleicht eher vorhergehenden Lacrimosa-Alben annähern, es kann sein, dass wir uns in eine ganz andere Richtung bewegen. Lacrimosa hat nie ausgemacht, was für ein Musikstil dahinter steht. Wir wurden schon als die Begründer oder Mitbegründer von so vielen Stilrichtungen bezeichnet… Für mich war Lacrimosa eigentlich immer nur die Umsetzung meiner Emotionen in der wunderbaren Form der Musik.
Trotzdem kann man seit Elodia eine gewisse Abkehr vom typischen Rock feststellen.
TILO WOLFF: Es gibt für mich eigentlich keine Orientierung, keine musikalische Orientierung… Ich bin dankbar in einer Zeit leben zu können, in der man eigentlich alles machen kann. Wenn man zurückdenkt, im Mittelalter, in der gregorianischen Musik sind Oktaven, sind Quinten erlaubt gewesen, sind keine Harmonien erlaubt gewesen. Es hat sich dann weiterentwickelt, dann kann man in die Renaissance, in Barock rein, wo man keine dynamischen Instrumente hatte, wo man diese Art Treppendynamik benutzt hat, um die Dynamik zelebrieren zu können, und so ging das immer weiter und es wurde immer offener, die Menschen wurden immer offener im Geist und konnten immer mehr Dinge ausprobieren ohne dafür gesteinigt zu werden.
Und heutzutage leben wir in einer Zeit, in der eigentlich alles möglich ist, es gibt zwar immer noch viele Schuhbladen, in die gewisse Dinge gesteckt werden, und es gibt Grenzen, wo man sagt, das ist Gothic, das ist Metall, das ist Klassik, das ist Barock… Ich sehe das im Prinzip nicht so, ich möchte von allem was benutzen, es gibt wunderbare Instrumente drum auch dieser Albumtitel Echos, die Echos aus der vergangenen Musik einfließen zu lassen und das alles zu benutzen, um die momentanen Gefühle zum Ausdruck zu bringen… Ist eher so, wenn ich versuchen würde, meine Gefühle zu zensieren oder nur gewisse Dinge meiner selbst veräußern könnte in der Musik, weil mir nur gewisse Stilmittel zur Verfügung stehen, wäre das ja Schade. Daher möchte ich ja keine Grenzen und Barrieren sehen und auch keine musikalischen Ausrichtungen in dem Sinn… solange die Musik von Herzen kommt, es ist mir wichtiger, als dass man sagen kann, das ist jetzt Gothic oder das ist… was für ein Stil auch immer.
Eine Aufteilung, die man auch in der klassischen Oper immer wieder findet, ist die Einteilung in Akte. Und auch das neue Album ist in zwei Zyklen eingeteilt, die jeweils eine Suche, die Hingabe und schließlich ein Bittruf enthalten. Wodurch unterscheiden sich diese beiden Kapitel?
TILO WOLFF: Ist im Prinzip so zu sehen: Wenn man davon ausgeht, dass man ein Gegenüber nur lieben kann, wenn man sich selbst ein stückweit liebt, wenn man davon ausgeht, dass man das Gegenüber nur verstehen kann oder versuchen kann zu verstehen, wenn man sich selbst versucht zu verstehen. Und auch Situationen, in die man im Leben gestellt ist, dass man diese nur meistern kann, wenn man sie ergründen kann und dazu braucht man auch wieder ein Selbstverständnis. So ist es zu sehen mit dem Album. Suche Part 1 – Durch Nach und Flut ist im Prinzip ein Blick nach innen und das Aufstoßen von verborgenen Türen in der eigenen Seele… Dinge zu ergründen und zu finden, die ganz tief in einem verborgen liegen.
Im zweiten Teil, in der Hingabe, dass man sich dem dann auch wirklich öffnet, dem sich wirklich hingibt, dass man Dinge, die man vielleicht in sich gefunden hat, auch dass man sich ihnen stellt und nicht die Tür wieder zumacht oder sie unter den Teppich kehrt, weil man damit nicht umgehen kann oder weil sie einem nicht liegen und damit hier auch im Grund genommen riskieren würde, dass sie irgendwann doch mal durchbrechen aber dann auch nur unkontrollierter Art und Weise. Und im letzten Teil, dem Bittruf, es ist dann dieser Wunsch, das auch festhalten zu können, was man jetzt erlernt hat, was man gefunden hat, wie viele Dinge man im Leben schon gelernt hat in Situationen… Und man steht dann irgendwann wieder in ähnlichen Situationen und muss feststellen, man war der Situation nicht gewachsen, obwohl man hätte ihr gewachsen sein müssen, weil man diese Situation eigentlich schon kennt und muss sich in der am Kopf fassen und sich da drüber ärgern, dass man das alles wieder verlernt hat, was schon mal durch gewisser Massen auch Schmerzen erlernt worden ist. Es ist der Bittruf, das festhalten zu können.
Und nachdem jetzt dieser Blick nach innen stattgefunden hat, wirft man den Blick nach außen und beginnt genau diese selbe Suche, genau dieselbe Hingabe, dessen was man findet, und diesen Bittruf, dieses Hoffen, es festzuhalten bei der Person, die man eben ergründen möchte, die einem nah steht, oder bei einer gewissen Situation, die man eben ergründen möchte. Und deshalb ist auch nicht Suche Part 1 gefolgt von Suche Part 2, sondern diese Entwicklung muss erst in einem selbst stattfinden, bevor man genau diese Entwicklung nach außen vollführen kann.
2003, Zillo
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