Lacrimosa ist schon immer eine Band gewesen, die die Musikgenres Gothic und Metal vereint und sich damit nicht immer Freunde auf beiden Seiten gemacht hat. Musikalisch geht vieles in Richtung Metal, womit der sensible Gruftie nicht klar kommt und inhaltlich serviert Tilo Wolff alles andere als leichte Kost, was so manchen Metal-Fan verschreckt. Doch dazwischen gibt es eine große Anhängerschar, die gerade diesen Musikstil der Band liebt, denn immerhin legen LACRIMOSA mit “Sehnsucht” ihr zehntes Studioalbum vor und haben beide Szenen mit ihrer Musik nachhaltig geprägt.

Da liegt es nahe, Mastermind Tilo Wolff über das neue Werk auszufragen und dabei hat er auch die eine oder andere Anekdote – mehr oder weniger ausführlich – ausgeplaudert. Doch lest selbst, wieso “Sehnsucht” ein so ursprüngliches Album geworden ist und stark an die Anfangstage der Band erinnert.

 

Zu Beginn erst einmal die obligatorische Frage: Wie geht es euch?

TILO WOLFF: Uns geht es rundum gut. Wir sind äußerst glücklich, dass das Album nun in trockenen Tüchern ist und endlich bald veröffentlicht wird und unser Publikum es hören kann. Wir sind natürlich sehr gespannt, wie die Menschen darauf reagieren werden.

Bevor wir zum neuen Album kommen, was habt ihr seit dem letzten Studioalbum “Lichtgestalt” alles gemacht? Immerhin sind fast vier Jahre vergangen.

TILO WOLFF: In dieser Zeit ist sehr viel passiert. Nachdem wir “Lichtgestalt” veröffentlicht hatten, sind wir erst einmal auf Tour gegangen, was sich bei uns ziemlich lange hinstreckt, da wir in der glücklichen Lage sind, überall auf der Welt spielen zu können. Wir waren erst lange Zeit in Lateinamerika, dann in Asien und natürlich in Europa. Das ganze Tourgeschehen hat sich, von einigen Unterbrechungen einmal abgesehen, über ein Jahr hingezogen. Dabei hatten wir ja alles mitgefilmt und aufgezeichnet, woraus die “Lichtjahre”-DVD und Live-Doppel-CD entstanden sind und 2007 herausgebracht wurden. Der Konzertfilm hebt sich von anderen Mitschnitten insofern ab, dass man nicht die ganze Zeit die Band auf der Bühne sieht. Es gibt einen Wechsel von Songs, die auf der Bühne performt werden, und Ausschnitten, die rund um die Tour handeln. Im Prinzip ist es wie ein Tourtagebuch. Es fängt in unserem Proberaum an, man sieht unsere Agentur, wie sie eine Tour buchen und dann wie wir eben die ersten Shows spielen. Zudem sieht man die ganzen Hintergründe zu den Konzerten – also was passiert Backstage, am Tag nach der Show, was passiert auf den Partys nachts im Hotel…

Also hattet ihr den Anspruch an euch selbst, nicht nur einen gewöhnlichen Konzertmitschnitt auf DVD zu bringen?

TILO WOLFF: Definitiv. Die Produktion war recht aufwendig, denn immerhin umfasst er die Zeitspanne von einem guten Jahr und demzufolge ist der Film drei Stunden lang. Zudem gibt der Film einen teilweise sehr intimen Einblick in die Band- und Tourgeschichte. Nachdem die Produktion abgeschlossen war, habe ich direkt mit der Produktion des neuen Albums begonnen, die nun ungefähr ein Jahr gedauert hat.

Wenn ihr soviel im Ausland unterwegs seid, bekommt man das hierzulande wenig mit. Ich finde das immer schade, wenn eine Band auswärts große Erfolge feiert und hier kaum darüber berichtet wird. Was denkst du, woran das liegen könnte?

Na ja, was sollen denn die Medien auch immer darüber schreiben? Sicher, man kann immer mal wieder über ein Konzert aus dem Ausland berichten, die Frage ist nur, wie groß ist dann hier das Interesse an diesen Artikeln.

Die Erlebnisse eurer großen Konzertreise sind eine gute Überleitung zum neuen Album. Habt ihr Erinnerungen an die Tour in die Songs einfließen lassen beziehungsweise wie sehr hat euch das Tourgeschehen inspiriert oder gar geprägt?

TILO WOLFF: Das beeinflusst natürlich schon sehr stark. Gerade weil wir auch einen engen Kontakt zu unseren Fans halten. Oft sprechen wir mit Leuten aus dem Publikum nach dem Konzert oder nehmen sie mit in den Backstage-Bereich. Dabei entstehen oft sehr interessante Gespräche. An unseren freien Tagen zwischen den Konzerten versuchen wir die jeweiligen Städte zu besichtigen und so viel Kultur und Zwischenmenschliches wie möglich in uns aufzusaugen. Das dem so ist, erlebt man beim Hören des neuen Albums ganz besonders bei dem Song ‘I Lost My Star In Krasnodar’, der natürlich von dieser russischen Stadt, respektive von einer Begebenheit in der Stadt während der Tour erzählt.

Das klingt ja sehr spannend! Doch zu einzelnen Songs kommen wir später noch einmal. Du sagtest, dass die Arbeiten zum neuen Album circa ein Jahr gedauert haben. Wie bist du nun selbst mit dem Resultat zufrieden? Hast du dich stark unter Zeitdruck gesetzt, damit es fertig wird?

TILO WOLFF: Also ich will die Zeit nicht sinnlos verschleppen. Andererseits ist es ja nicht so, dass ich ein Jahr permanent an der CD gearbeitet habe. Schließlich muss ich mich auch noch um andere musikalische Projekte kümmern, wo ich ab und an vorbeischauen sollte. Es ist schon so, dass ich dann fertig bin, wenn ich fertig bin. Ich habe ja keinen Label-Boss im Nacken sitzen, der mir eine Deadline vorgibt oder mir sagt: Bis zu dem Datum muss es auf den Tisch liegen! Von daher kann ich solange daran arbeiten, bis ich sage: So jetzt gibt es nichts mehr zu sagen. Und ja, ich bin happy mit dem Resultat.

Das Cover ist ja wieder im typischen Stil gestaltet. Möchtest du es unseren Lesern näher erklären?

Sehnsucht, LacrimosaTILO WOLFF: Sehr gerne! Anfangen muss man eigentlich mit der Rückseite des Covers. Da sieht man den Harlekin, mit einer Fackel in der Hand. Er hat dort ein Feuer entzündet und ist selber erschrocken, was daraus entsteht. Und was daraus entsteht, sieht man auf der Vorderseite. Dieses Feuer als Sinnbild der Sehnsucht – die entfachte Sehnsucht. Aus dieser Sehnsucht heraus wächst beziehungsweise wacht dieses Pferd, das die Kraft und die Freiheit symbolisiert, sich aufzumachen, um neue Welten kennen zu lernen. Einfach davon zu reiten in die Welt, um Neues zu entdecken und zu erleben. Geritten wird das Pferd von der Lady, die LACRIOMOSA ja schon lange begleitet, eigentlich seit dem “Satura”-Cover. Einerseits stellt sie die Wiedergeburt der Elodia dar, die ja eigentlich auf dem 1999iger Album “Elodia” gestorben ist und hier wiedergeboren wird. Damit möchte ich zeigen, dass in dieser Sehnsucht alles möglich ist. Selbst der Tod kann besiegt werden! Es gibt also kein endloses Schwarz, sondern es gibt immer einen Lichtpunkt am Ende. Andererseits möchte ich damit die Bandhistorie unterstreichen, weil ich dieses Album als ein sehr typisches LACRIMOSA-Album im ursprünglichen Sinn bezeichnen würde. Es erinnert in vielen Momenten an sehr alte LACRIMOSA-Sachen.

Also getreu dem Motto: Back to the roots?

TILO WOLFF: Ja, so ein bisschen schon – zumindest emotional.

Wie entstehen neue Songs? Erarbeitest du alles selbst, also die Texte und die Musik?

TILO WOLFF: Es passiert meistens so, dass ich meine Gedanken aufschreibe, aus denen die Texte hervorgehen. Wenn mich ein Text besonders berührt oder ich das Gefühl habe, zu dem Thema möchte ich mehr sagen, dann setze ich mich meist an das Klavier oder schnalle mir die Gitarre um und fange einfach an zu spielen, zu improvisieren. Ich versuche die Emotionen, die im Text zum Ausdruck gebracht sind, in Töne zu fassen. Sobald es wie bei einem Magnet plötzlich alles zusammenzieht und ich merke, dass ist der richtige Ausgangspunkt, dann fange ich direkt an zu produzieren.

Also der Kompositions- und der Produktionsvorgang gehen direkt ineinander über, was bei diesem Album besonders stark der Fall war. Es kann beispielsweise sein, dass ich schon einen Gitarrenrefrain und einen Text fertig eingespielt habe, so wie er dann auf dem Album zu hören ist, ich aber noch gar nicht den Rest des Songs komponiert habe. Das hat eben den Vorteil, dass alles sehr ursprünglich und direkt, fast schon unverblümt ist. Es gibt keine Zensur in irgendeiner Form, die hinterher sagt: So der Song ist fertig, jetzt muss ich schauen, dass ich ihn in eine spezielle Richtung presse. Genauso wie es rauskommt, so bleibt es auch!

Das ist vielleicht auch der Grund, weswegen das Album an alte Sachen erinnert, weil ich da auch so gearbeitet habe. Dabei entstehen eben solche doch sehr direkten, ursprünglichen und radikalen Geschichten. Ein weiterer Vorteil ist, dass ich das Orchesterarrangement direkt auf die Produktion abstimmen kann. Viele Bands haben meist ein Problem, wenn sie einen externen Orchesterarrangeur bitten, ihnen noch Orchester auf die Kompositionen drauf zu schreiben.

Sie wissen da im Vorfeld nie, in welchen Frequenzbereich die Aufnahmen stattfinden, die das Orchester letztendlich abliefern wird. Dann kommt es oft vor, dass sich die Frequenzen der Orchesteraufnahmen mit denen der Band überlappen. Gerade bei Gitarren und Streichinstrumenten ist das oft der Fall. Das kann ich natürlich vermeiden, da alles sozusagen aus einer Hand kommt.

Ist Anne in diesen Entstehungsprozess überhaupt nicht eingebunden?

TILO WOLFF: Doch natürlich. Sie ist insofern eingebunden, dass sie zum einen an ihren Gesangsmelodien mitschreibt, wenn ich einen Song habe, bei dem ich eine weibliche Stimme mit dabei haben möchte. Zum anderen schreibt sie ihre eigenen Songs zum größten Teil selbst, wie es auf der Platte bei ‘A Prayer For Your Heart’ der Fall war. Die Musik haben wir zusammen gemacht.

Ich finde, dass der Einstieg und der Ausklang bei diesem Album – man kann ja sagen wie immer – perfekt gelungen sind. Was ist der Grund, dass du darauf so großen Wert legst?

TILO WOLFF: Das hast du gut erkannt! Weißt du, ich komme da vielleicht ein bisschen aus einer etwas anderen Zeit. Ich bin kein Musikkonsument, der seine Lieblingslieder mal eben auf den MP3-Player lädt. Ich sehe ein Musikalbum wirklich als ein Kunstwerk an, mit Anfang und Ende.

Also betrachtest du ein Album immer als Ganzes?

Tilo Wolff, SehnsuchtTILO WOLFF: Ganz genau. Das ist wie im Kino, da stehe ich auch nicht auf, während der Abspann läuft, denn der gehört für mich ebenfalls zum Film.

Beim Hören hatte ich den Eindruck, dass der Großteil der neuen Stücke von der musikalischen Seite her schneller zugänglich ist, als es bei vorangegangenen Werken der Fall war. Was für Gründe könnte das haben oder siehst du das anders?

TILO WOLFF: Ah ja? Also den Eindruck hatte ich nun gerade eben nicht. Um ehrlich zu sein, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht, weil ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht habe! (muss lachen) Das ist zwar jetzt vielleicht etwas egoistisch, aber für mich ist das ja alles logisch und erschließt sich. Von daher mache ich mir nie Gedanken darüber, wie es wohl für einen Dritten sein könnte. Doch ich freue mich natürlich, wenn du das so siehst. Schließlich höre ich ja oft genug, dass meine Musik sehr schwierig zugänglich ist.

Das Thema Sehnsucht spielt die zentrale Rolle in den einzelnen Stücken, wobei das Wort selbst sehr selten, im Vergleich zu anderen Alben, vorkommt. Ist das Zufall oder Absicht?

TILO WOLFF: Das ist tatsächlich Zufall und ein spannendes Thema! Ich weiß es nicht und ich habe auch nicht nachgeschaut, aber wahrscheinlich ist es das einzige LACRIMOSA-Album, auf dem das Wort Sehnsucht überhaupt nicht vorkommt. Es kommt eigentlich nur beim Albumtitel und kurz beim ersten Song vor, doch ich singe es nicht ein Mal auf der Platte. Dieser Zufall liegt wahrscheinlich darin begründet, da ich über dieses Thema spreche, muss ich es gar nicht erwähnen.

Es gibt diesmal kein Stück, was über 10 Minuten lang ist. Noch einmal die Frage: Zufall oder Absicht?

TILO WOLFF: Natürlich ist das auch Zufall. Was solche Sachen anbelangt, ist vieles bei mir Zufall, weil ich mir beim Beginn des Komponierens keine Regeln mache. Würde man zu mir sagen: Schreibe einen Song, der über zehn Minuten geht, dann würde ich wahrscheinlich schon nach der ersten Minute total verzweifeln, weil ich nicht mehr weiß, was ich noch schreiben soll. Bei mir entwickelt sich das eben im Laufe der Zeit und manchmal wundere ich mich selbst, wieso ein Stück so lang geworden ist, weil ich am Anfang gar nicht so viele Ideen hatte. Doch oft ergibt es sich, dass es soviel zu sagen gibt und in diesem Fall wollte ich überall wirklich zum Punkt kommen. Das hat dann wahrscheinlich dazu geführt, dass die Songs alle unter zehn Minuten geblieben sind.

Also ist das ein weiteres Indiz dafür, dass du sehr frei und ursprünglich gearbeitet hast?

TILO WOLFF: So ist es. Es war bei LACRIMOSA zwar schon immer so, aber so radikal wie dieses Mal, also dass ich mir über gar nichts mehr Gedanken gemacht habe, war es noch nie. Ich bin einfach drauf losgerannt – so extrem war es wirklich selten.

‘Mandira Nabula’ strahlt mit seinen Akkordeonklängen eine gewisse heitere Melancholie aus. Steckt hier ein wenig persönliche Sehnsucht nach Frankreich oder gar nach Fernweh dahinter?

Also ich habe letztes Jahr sehr viel Zeit in Frankreich, respektive in Paris verbracht. Das hat sicherlich etwas mit beeinflusst. Allerdings ist der Grundgedanke, der dahinter steckt, das Zusammenprallen zweier Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammen passen und nicht zusammen gehören – musikalisch wie auch emotional. Das finde ich immer spannend. In diesem Zusammenspiel zweier, zunächst nicht zusammen passender Dinge, entsteht eigentlich immer das Interessanteste. Das versuche ich stets herauszukitzeln. Deswegen habe ich diesem doch stellenweise recht brutalen Song das Akkordeon sozusagen als die gute Hoffnung zur Seite gestellt.

Bei ‘Feuer’ könnte man meinen, du rechnest mit einer bestimmten Person ab. Zudem ist der Song ziemlich ironisch. Eine Seite, die man von LACRIMOSA gar nicht so kennt – was steckt dahinter?

TILO WOLFF: Ja, das ist richtig. Ironisch deswegen, weil so eine Abrechnung natürlich mit etwas Humor betrachtet werden muss, da man sich in solch einem Moment selber nicht so ernst nehmen darf. Wenn man die Gedanken, die man da teilweise hat, tatsächlich in die Tat umsetzen würde, na ja…

Von daher bin ich dieses Thema etwas ironisch und sarkastisch angegangen. Den Song habe ich als einen der letzten für das Album geschrieben und ich muss sagen, dass ich nach wie vor in dem Stadium bin, wo ich den Song so höre, wie er gemeint ist. Also ich meine das ziemlich ernst! Oder sagen wir mal so: Die Wut ist noch nicht ganz vergangen.

Aber es handelt sich schon um eine gewisse Person, die du mir sicherlich nicht namentlich nennen möchtest.

TILO WOLFF: Also es bezieht sich tatsächlich auf eine bestimmte Person. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

‘I Lost My Star in Krasnodar’ könnte ein guter Clubhit werden. Siehst du das ähnlich? Welche Begebenheit liegt dem Song zu Grunde – du sprachst es ja bereits an?

TILO WOLFF: Na, das wäre ja toll, wenn das Stück demnächst in den Clubs läuft! Ach na ja, im Großen und Ganzen ist es eine zwischenmenschliche Begebenheit gewesen, die ich jetzt nicht unbedingt vertiefen will. Sie steht ein bisschen stellvertretend für diverse Begebenheiten, die auf dieser Tour stattgefunden haben und die natürlich schon hier und da ihre Spuren hinterlassen haben.

Gehe ich recht in der Annahme, dass du mir auch dazu keine Details verraten möchtest?

TILO WOLFF: So ist es.

Da frage ich im Gegenzug einmal ganz frech: Hast du ein Lieblingsstück bei diesem Album?

 

Тило Вольф, Sehnsucht

TILO WOLFF: Eigentlich mag ich alle Songs gleich gern, wobei das auch etwas stimmungsabhängig ist. Aber wahrscheinlich würde ich mich auf den Opener festlegen. Weil, wenn ich den einmal aufgelegt habe, dann kann ich die ganze Platte nicht mehr ausmachen und höre alle durch.

Ich würde gern noch etwas zum Thema Fanarbeit wissen. Zu Beginn sagtest du ja, dass ihr euch nach den Konzerten gern mit den Gästen über den Auftritt unterhaltet. Verfolgst du daneben beispielsweise Diskussionen in Foren, liest Gästebucheinträge und antwortest darauf oder konzentrierst du dich ausschließlich auf die Musik?

TILO WOLFF: Also da konzentriere ich mich definitiv auf die Musik. Ich muss ehrlich sagen, dass ich in dieser Hinsicht wenig mache. Gerade was das Thema Myspace betrifft, da lese ich keine Einträge, denn dazu komme ich zeitlich überhaupt nicht. Die Seite wird von unserem Büro aus betreut. Ich möchte da persönlich auch gar nicht so viel lesen, da ich mich einerseits zeitlich verzetteln würde und andererseits das persönliche Gespräch viel mehr schätze.

Ich sage dir auch ein Beispiel, warum. Auf der letzten Tour hatte ich nach einem Auftritt in Deutschland eine Besucherin gefragt, wie ihr denn das Konzert gefallen hat, da ich an diesem Tag krank war. Somit wusste ich nicht, ob ich die Energie herüber gebracht habe, die ich herüber bringen wollte. Sie sagte darauf: “Das Konzert war scheiße!” Von dieser Antwort war ich etwas schockiert, da ich gehofft hatte, dass es nicht ganz so krass rüber kam, dass ich krank war. Ich fragte sie daraufhin, warum sie es denn so schlecht gefunden hat. Daraufhin meinte sie: “Ja, es war viel zu voll, es waren viel zu viele Leute und ich konnte überhaupt nicht tanzen!”

Und da siehst du, hätte ich jetzt im Internet nur diesen einen Satz gelesen, und nur der wäre ja von ihr hineingeschrieben worden, dann wäre ich von etwas völlig anderem ausgegangen, als es wirklich der Fall war. In einem Gespräch kann man eben nach den Gründen fragen und hier stellte sich eben heraus, dass sie das Konzert eigentlich super fand, nur eben sie nicht tanzen konnte, was ihr die Laune verdorben hat. Von daher will ich gar nicht so viel wissen, was die Leute hinterher alles über LACRIMOSA sagen oder schreiben, sondern erfahre das lieber aus einem Gespräch heraus.

Derzeit spricht ja jeder über die Wirtschaftskrise. In der Musikindustrie ist sie ja schon lange angekommen, gerade durch die illegalen Downloads. Der Kollege Oswald Henke nimmt z.B. keine neuen CDs mehr auf, weil er sein erarbeitetes Geld nicht in die Produktion einer CD steckt, die dann hauptsächlich ohne Gegenleistung aus dem Netz herunter geladen wird. Kannst du dir vorstellen solch einen radikalen Schritt zu gehen und wie siehst du die Zukunft?

TILO WOLFF: Also ich will unbedingt Musik machen und ich liebe es Musik zu machen! Doch es wird immer schwieriger, gerade weil es ja nicht gratis ist, diese Musik zu produzieren. Im Gegenteil, die Kosten steigen. Das sehen die Leute meist nicht so, denn eigentlich ist es ja Diebstahl, was sie da machen.

Es wäre ja fast das gleiche, wenn der Chef zu seinem Angestellten sagt: “So, du bekommst diesen Monat kein Geld und für den Rest des Jahres auch nicht, aber du musst weiterarbeiten”. Viele Musiker sind davon frustriert und als erstes trifft es die Alternative-Bands. Eine größere Plattenfirma kann es sich noch eher leisten, Bands ins Studio zu schicken, kleinere nicht mehr. Das bedeutet, dass die individuelle Musik sterben wird – zumindest auf dem Niveau.

Die kommerzielle Musik wird letztendlich den Siegeszug anführen und ich denke, dass es in absehbarer Zeit auch keine Tonträger mehr geben wird, sondern nur noch tatsächlich den einen Song, den man sich dann als Klingelton usw. herunterladen kann. Die Musik wird mehr und mehr zur Ware. Daran sind einerseits die Unternehmen und die Branche schuld, andererseits aber auch die Konsumenten, die nicht mehr bereit sind, für Musik Geld auszugeben.

Diese Haltung ist aber eher ein generelles Problem und betrifft nicht nur eine Musikrichtung oder eine Szene.

TILO WOLFF: Selbstverständlich. Egal, welche Musiksparte du nimmst, es trifft als allererstes immer die kleinen Bands, die einen kleinen Kreis ansprechen. Ein ROBBIE WILLIAMS wird davon weniger spüren.

Du sagtest ja, dass die Musik immer mehr zu einer Ware wird. Für viele sind damit ja tolle Merchandise-Artikel oder ein Foto mit den Lieblingskünstlern wichtiger geworden, als die CD selbst. Kannst du diesen Trend für LACRIMOSA bestätigen und was denkst du, wo liegen die Gründe?

TILO WOLFF: Ich glaube diese Entwicklung gibt es überall, auch bei LACRIMOSA, wobei ich das nicht wirklich nachvollziehen kann. Schließlich zeichnet sich eine Band durch ihre Musik aus und nicht durch ein tolles Shirt. Aber daran merkt man wieder, dass der Respekt vor der Musik einfach nicht mehr gegeben ist und eine gewisse Gleichgültigkeit herrscht.

Diese oberflächliche und gleichgültige Haltung kann man ja auch nicht in der Gothic-Szene abstreiten. Spürst du das beispielsweise auch bei Auftritten?

TILO WOLFF: Bei Konzerten merke ich es eher weniger, weil dort Leute sind, die sich intensiver mit Musik auseinandersetzen. Sonst würden sie nicht LACRIMOSA hören. Aber gerade in Clubs merkt man das ganz stark. Es geht nicht mehr darum eine Jugendkultur widerzuspiegeln beziehungsweise, dass die Menschen nicht mehr in der Musik ihr Innenleben ausleben wollen.

Es geht einfach nur noch um Party machen und Spaß haben. Die Grundidee von Gothic ist ja das nach außen kehren des Innenlebens, dass man einfach seine Emotionen in die Musik packt. Wenn dann aber Bands wie LACRIMOSA teilweise angefeindet werden, weil sie Emotionen transportieren, weiß man, dass hier etwas nicht ganz in Ordnung ist.

Da gebe ich dir vollkommen Recht. Wobei ja gerade in der Gothic-Szene viele Leute negativ oder sensibel reagieren, wenn eine Band mal versucht neue Wege zu gehen. Das ist doch bei LACRIMOSA im Laufe der Zeit sicherlich auch passiert?

TILO WOLFF: Natürlich. Da hat ja LACRIMOSA auch noch das Problem, dass die Musik für die meisten eigentlich viel zu hart ist, da es mehr Metal als Gothic ist. Das schreckt dann viele ab, weil es nicht mehr in die Schublade rein passt.

Da wir gerade von musikalischen Entwicklungen reden, hätte ich zum Abschluss noch eine Frage. Was macht eigentlich dein Projekt SNAKESKIN – ist das noch aktuell?

TILO WOLFF: Na klar! Sobald ich mal wieder Zeit habe, also frühestens 2010, werde ich mir darüber wieder nähere Gedanken machen. Im Moment habe ich dafür keine Zeit. Aber es wird definitiv weitergehen!

Ich sehe, bei dir wird es also nie langweilig. Dann danke ich dir vielmals, dass du trotzdem Zeit hattest, so geduldig meine Fragen zu beantworten.

TILO WOLFF: Kein Problem, das mache ich doch gern. Ich möchte zum Abschluss noch alle Leser grüßen und hoffe, dass ihnen das neue Album gefällt. Vielleicht sieht man sich ja auf einem unserer Konzerte im Herbst.

CREDITS

 powermetal.de, Swen Reuter, 05.05.2009

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