Mir ist aufgefallen, daß Lacrimosa von allen Wave-Indie-Bands diejenige ist, die erstmalig glasklare rockige E-Gitarrentöne a`la Pink Floyd oder Rock-bands der 70er in ihren Liedern gebracht hat. Auf dem letzten Zillo-Open-Air war es dann ja sogar extrem gitarrenlastig und sehr hart. Ich konnte beobachten, daß viele etwas überrascht und ratlos waren, einige gingen sogar von der Bühne weg, und hinterher konnte ich Stimmen hören, daß es zu hart gewesen sei und nicht so wie von Platte her gewohnt.
TILO WOLFF: Problem bei der Szene ist, sie schimpft sich ja selbst immer sehr offen nach außen und tolerant usw. Es ist aber wohl eine der intolerantesten und kleinkariertesten Szenen, weil sie einfach nichts akzeptiert, was einfach fett, fett Gothic ist. Wenn jemand Einflüsse von Bands wie Led Zeppelin, Black Sabbath, Pink Floyd mit in seine Musik einfließen läßt, dann denke ich, daß waren die Gottväter des Gothics, und das wissen vielleicht heutzutage viele Leute nicht mehr und können es sich vielleicht auch gar nicht vorstellen; aber es sind die Wurzeln und daraus hat es sich entwickelt. Und warum nicht solche Wurzeln wieder in Erinnerung rufen? Es ist doch sehr positiv, und es gehört meiner Meinung nach zum kleinen Einmaleins der Gothic-Musik. Da die Szene heute sehr jung ist, kennt sie solche Bands nicht und stellt den Zusammenhang nicht her. Das ist sehr schade.
Beim Zillo-Festival wollte ich einerseits ganz bewußt eine härtere Seite von Lacrimosa präsentieren, um es auch mal Kritikern, naja, die nicht unbedingt auf solche Musik stehen wie wir sie machen, zu zeigen. Andererseits finde ich es immer sehr interessant, die Leute zu schockieren, sie vor den Kopf zu stoßen. Aber beim Zillo-Festival wußte ich, daß wir sehr stark unter die Lupe genommen werden.Während der „Inferno-Tour“ wollte ich eine Reaktion vom Publikum spüren, wollte das Energie rüberkommt, daß das Publikum mehr mitgeht. Mich stört, daß gerade das Gothic-Publikum immer so ruhig dasteht.
Wie siehst du die unzähligen verschiedenen Jugend-Szenen, Gruppierungen die es heute gibt, ihre Abschottung untereinander, ja sogar teilweise Feindschaften?
TILO WOLFF: Ja, daß ist das Problem der Zugehörigkeit. Jeder orientiert sich in eine andere Richtung und versucht eine eigene andere Szene zu finden. Selbst unsere Szene unter sich ist gespalten. Ich habe in Diskos üble Sachen erlebt, z.B., daß Leute, die mehr Electro hören – wie Nitzer Ebb – gespuckt oder mit irgendwas geschmissen haben, wenn Christian Death gespielt wurde und die Gruftis tanzten. Und so geht es weiter, indem die einen sagen, sie wollen nur Gothic-Rock der 80er hören, die anderen nur Gothic-Rock der 90er. Hier sieht man auch wieder den Bruch. Ich weiß nicht, es spaltet sich immer mehr auf. Aber es ist nicht nur in solchen Szenen so, sondern es ist auch in der Gesellschaft selbst zu beobachten, daß sie sich immer mehr aufspaltet. Es gibt immer mehr Differenzen zwischen der Oberschicht und der Unterschicht. Und auf Dauer geht jeder immer mehr seinen eigenen Weg. Wo früher noch alle zusammengehalten haben, spaltet sich immer mehr alles auf. Das ist irgendwie so die Entwicklung – jede Gesellschaft ist zum Scheitern verurteilt. Und ich glaube, die Geselschaftsform in der wir im Moment leben, die wird es nicht mehr allzulange machen, es kriselt schon zu sehr.
Was immer im einzelnen Gesellschaften spaltet, was immer im einzelnen Gesellschaften zum Scheitern verurteilt, am Anfang steht immer die Intoleranz.Die Intoleranz ist immer das auslösende Moment. Ohne sie gäbe es keinen Haß, keine Feindschaft. Und wenn man richtig drüber nachdenkt, viele Kriege, die die Welt bisher gesehen hat, hätten ohne Intoleranz nie stattgefunden.
TILO WOLFF: Ja, genau die Intoleranz! Aber grundsätzlich mal ist der Respekt verlorengegangen.Ein einfaches Beispiel: Die Kinder haben keinen Respekt mehr vor ihren Eltern, haben überhaupt keine Ahnung, was die Eltern für einen getan haben. Klar. Die Eltern sind auch nur Menschen, haben auch ihre Fehler. Aber die Respektlosigkeit gegenüber seinen Freunden, seinem ganzen Umfeld, die die ganze Jugend – vor allem heutzutage – durchzieht, ist zu stark vorhanden.
Ja, Respektlosigkeit und Intoleranz! Ob Linke gegen Rechte, ob Skins gegen Punks und was weiß ich nicht alles. Niemand kann den anderen tolerieren, einfach akzeptieren, respektieren.
TILO WOLFF: Selbst in der schwarzen Szene wird alles sehr eng gesehen. Wenn sich mal jemand z.B., `ne Platte der Kelly Familiy kauft, dann ist er einfach abgeschrieben. Und so was darf einfach nicht passieren, die Szene ist halt einfach sehr, sehr kleinkariert, wie ich vorhin schon sagte. Viele Leute werden nicht akzeptiert, weil sie nicht extrem genug aussehen oder extrem genug drauf sind.Es beschränkt sich inzwischen nur noch auf Oberflächlichkeiten in der Szene, und der wirkliche Geist ist irgendwo verloren gegangen. Ich denke, wenn die Szene noch weiter existieren will, dann muß sie an sich arbeiten. Erstens, daß sie toleranter wird und zweitens, fähig wird, sich selbst nicht so ernst zu nehmen, bzw. ihre Umwelt nicht so ernst zu nehmen.
Ich meine, man kann sich ja trotzdem ernst nehmen. In dem Moment, wo ich irgendwo in einer Szene drin bin, nehme ich mich doch ernst. Ich will das doch nicht die ganze Zeit als einen Joke auffassen; denn wenn ich einer Szene drin bin, dann stehe ich dazu, dann ist da für mich auch eine Ernsthaftigkeit bei.
TILO WOLFF: Aber nicht so verbissen. Wenn ich z.B. in der Gothic-Szene bin, und jemand macht da einen Witz drüber, dann darf ich nicht anfangen zu heulen oder so. Jeder Mensch, der auf der Erde lebt und sich noch nicht umgebracht hat, hat irgendwie Spaß am Leben oder zumindest sucht er noch danach.Ich denke, daß viele Leute in der Szene, gerade über solche Sachen nicht nachdenken. Die sind sich gar nicht bewußt darüber, was für ein Geschenk es ist, überhaupt am Leben zu sein, respektive, gesund zu sein. Es gibt viel Oberflächliches und es wird alles mit (zögert) einem Pseudo-Ernst aufgenommen. Und aus einer gewissen Angst heraus, der Szene gerecht zu werden, versucht man etwas zu spielen, man ist nicht mehr sich selbst.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, wenn du in einer Gruppe, in einer Clique aufgehst, bist du im Grunde nicht mehr du selbst.Du übernimmst das, was die Gruppe vorgeschrieben hat.
Bei mir in meiner damaligen Zeit als Hamburger Motorrad-Rocker, als Mitglied verschiedener Clubs, war es eben nach außen die Rockerkleidung, wo eben Eiserne Kreuze und Hakenkreuze einfach dazugehörten, einfach um die Spießer zu schockieren. Ein Hakenkreuz in der Öffentlichkeit schockiert immer. Dann unsere Motoräder, wird zurechtgemachte Harleys, damals erregte das noch Aufsehen. Und dann eben das Harte, man mußte immer hart drauf sein, „wir sind die Härtesten, was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter“. Es stimmt schon, was du sagst, es ist vielleicht doch manches eine Pseudo-Ernsthaftigkeit. Man integriert sich, will dazugehören, paßt sich an. Aber trotzdem nicht verkehrt! Man ist eben nicht mehr allein, hat Gleichgesinnte, fühlt sich geborgen. Es ist ja auch so, daß fast jeder im Alter von 15, 16 bis etwa Anfang oder Mitte 20 Bestätigung in Cliquen braucht, sich ausleben will, sich selbst verwirklichen will, die Enge des Elternhauses als Kind hinter sich lassend.
Doch vieles ist eben doch eine totale Ernsthaftigkeit.Ich habe nach Jahren alte Kumpels wiedergetroffen, die heute Verbrecher und Zuhälter sind, die aber damals auch schon so drauf waren, die haben immer so gelebt, für die war und ist alles ernst, ist alles hart. Die haben nie gespielt, waren nie pseudomäßig drauf.
TILO WOLFF: Das ist absolut der Punkt! Wenn es eine Szene, eine Clique nicht geben würde, wird es immer Leute geben, die trotzdem so drauf sind. Aber ich denke auch, daß es für die Leute, die man als Mitläufer bezeichnet, sicher gesund ist, wenn sie dann in eine Szene kommen und dann einfach eine gewisse Zeit ihre Selbstfindung durchmachen können, von der Szene gehalten werden. Und wenn sie sich dann wieder verabschieden, ist das in Ordnung.
Ja, und wenn man die Szene verläßt und nicht mehr nötig hat, quasi „selbst seinen Mann stehen kann“, blickt man gern auf diese Zeit zurück.
TILO WOLFF: Wenn man, wie du gerade gesagt hast, positiv auf diese Zeit zurückguckt – „das war `ne schöne Zeit!“ – dann find ich das sehr gut; aber ich hab` leider sehr viele Leute kennengelernt, die haben irgendwann gesagt „ich hab` die Schnauze voll von der Szene“, und wenn sie dann wieder was mit der Szene zu tun haben, sich verleugnen, sie wären nie Gothic gewesen, und daß find ich dann schlimm. Oder daß sie negative Gefühle gegen die Szene entwickeln. Ein guter Freund – früher in der Szene – ist zum Skin geworden und fing an, seine eigenen Freunde zu schlagen. Das ist dann sehr seltsam. Ich werde nie der Szene den Rücken kehren. Ich bin zwar nicht mehr in irgendeiner Clique oder so in der Szene drin wie ich früher mal war; aber ich werde dieses (zögert) Gothic-Herz wahrscheinlich bis zum Rest meines Lebens nicht verlieren.
Rede von Tilo Wolff auf die Zillo-Preisverleihungsveranstaltung.
TILO WOLFF: Also zunächst möchte ich mich erst einmal ganz herzlich bedanken, daß ihr alle gekommen seid. Das ist zwar auf der einen Seite ein beängstigen – des Gefühl, hier vor so vielen Leuten zu stehen und zu reden, denn, das bin ich überhaupt nicht gewohnt, und mir schlackern auch einigermaßen die Hosen. Auf der anderen Seite bin ich aber auch wahnsinnig gerährt, vor allem über die wahnsinnig freundlichen Worte, die heute abend über Lacrimosa schon gesagt wurden, speziell von den drei Rednern, die jetzt hier schon gestanden haben, und dafür möchte ich mich von ganzem Herzen bedanken. Ebenfalls möchte ich mich auch bedanken für den Preis.
Natürlich ist es eine ganz besondere Sache, ich weiß kaum, was ich sagen soll, ich hab´ früher immer nur von solchen Sachen geträumt, überhaupt jemals meine Musik rauszubringen. Daß irgend jemand meine Musik hört und vielleicht auch ein bißchen Gefallen dran findet – und jetzt dafür so einen Preis zu bekommen – das ist ein sehr, sehr schönes Gefühl, und ich möchte auch Euch ganz herzlich dafür danken, daß Ihr diesen Preis auch mit Eurer Anwesenheit untermauert und unterstützt. Dafür noch mal ganz herzlichen Dank. Jetzt hab´ ich mir hier ein paar Notizen gemacht, eben, weil ich so ein schlechter Redner bin. Ich hoffe, ich krieg das jetzt noch zusammen.
Wir haben uns jetzt folgendes gedacht bezüglich des Preisgeldes: Unsere Intension, die Musik zu machen, auch zu veroffentlichen, hat immer damit zusammengehangen, daß wir der Szene auch etwas geben wollten. Wie auch wir uns gefreut haben, über jede neue Platte, die uns gut gefallen hat, die uns selbst was gebracht hat. Dementsprechend haben wir befunden, daß wir dieses Geld auch dafür einsetzen werden, die Szene zu supporten. Ich habe ein kleines Attentat auf die Zeitschrift Zillo vor. Ich habe mit niemanden von ihnen gesprochen, ob das überhaupt geht. Ich hab mir gedacht, daß bis zum 30. Juni 1996 junge Bands, die bisher noch keinen Plattenvertrag haben – und immer schon einen haben wollten – ihre Demobänder an Hall of Sermon schicken. Das sollte dann auch, und ich hoffe, daß geht klar, Easy, in der Zeitschrift Zillo noch einmal bekanntgegeben werden, auch mit Adresse usw., wo die Bänder hingeschickt werden sollen, und bis wann. Tja, und dann würden Anne und ich uns die Freiheit nehmen, die 3 Bands, die uns am besten gefallen haben, ins Studio zu schicken und den Bands dadurch die Möglichkeit geben, professionelle Aufnahmen zu machen. Wenn dann die Bänder alle fertig sind, hören wir sie uns an. Was der beste Song ist, der besten Band, das können dann entweder wir entscheiden oder Zillo selbst. Ich hoffe – ich werde nicht totgeschlagen von Easy – daß der beste Song auf der nächsten Zillo-Kompilation mit drauf sein wird.
Tja, in dem Sinne hoffe ich, daß das Geld bzw, der Preis dann eine gute und auch wieder konstruktive Verwendung finden wird und dadurch wieder neues kreatives Potenzial entstehen wird. Ich bedanke mich nochmals ganz herzlich, daß ich überhaupt die Chance erhalten habe, mal wieder der Szene Impulse zu geben, was ja nicht immer vorkommt. Nochmals ganz herzlichen Dank.
1996, Zillo, Easy Ettler
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