Spricht man von Gothic-Musik der 90er Jahre, dann muß man Namen wie Lacrimosa oder Love like Blood einfach erwäh​nen. Zwei Bands, um die Wurxzeln der Bewegung wissend, aber doch stets bemüht, dem Genre eine Blutauffrischung zu geben. Während der Stern von Lacrimosa stetig steigt, mußten Love like Blood in den letzten Jahren eine Durststrecke durch​laufen. Mit ihrem aktuellen Album “Snakekiller”, das zudem auf Lacrimosas Label Hall Of Sermon veröffentlicht wurde, dürften Love like Blood wieder zu einem leuchtenden am Gothic-Rock-Firmament werden, haben sie dem Genre mit diesem Album doch einem Schuh nach vorne geben können.

Was liegt näher, als Lacrimosa (Tilo Wolff und Anne Nurmi) und Love Like Blood (Gunnar und Yorck Eysel) an einen Tisch zu bitten und ein wenig über derzeitige Gothic-Szene zu plaudern?!

Gesagt, getan, und anlaeßlich der Release-Party der neuen Alben von Therion und love like Blood in der Bochumer Zeche fanden sich Lacrimosa und Love like Blood zu einem Smal Talk zusammen.

Da sich der Interview-Termin aufgrund des Soundchecks von Love Like Blood nach hinten schob, blieb für die Zusammenkunft nicht viel Zeit. Daher konn​ten einzelne Punkte nicht verlieft werden. Hier sind nun Ausschnitte der Zusammenkunft zu lesen, die sicherlich Stoff für rege Diskussionen geben werden.

Mittlerweile gibt es immer mehr Magazine, die sich mit der Szene aus​einandersetzen. Meint ihr, daß dieser Overkill der Szene geschadet hat?

TILO WOLFF: Ich denke, nicht der Overkill selbst, sondern die Art und Weise des Schreibens. Oft haben Leute über die Szene geschrieben die sich nicht wirklich ernst​haft mit den Grundgedanken und Hintergründen auseinandergesetzt haben, die eigentlich wenig mit ihr zu tun hatten oder zu wenig Bescheid wußten. Ich habe zum Beispiel nur selten Schreiber getroffen, die ähnlich extrem drauf waren wie viele Leute aus der Szene selbst. Da aber alles Gedruckte für bare Münze genommen wird, hat es auch stark zur Meinungsbildung beigetragen, besonders bei den Einsteigern. Dazu kommt, daß knallharte Themen oftmals ausgespart wurden, weil sie den Magazinen dann eben doch zu extrem waren. Sobald eine Sache, wie in diesem Fall die Szene, größer wird, finden sich auch diejenigen, die die Sache von der kommerziellen Seite aus betrachten. Dadurch ist das Ganze auf eine gewisse Art Tilo Wolff, Lacrimosaoberflächlicher geworden.

GUNNAR: An den Medien stört mich gar nichts, mich stört nur, daß die Szene nicht aus sich selbst heraus gewachsen ist. Gemeint ist der er​neute Gothic- bzw. Düster-Boom, der meiner Meinung nach diesmal durch Metalmands wie Paradise Lost oder Amorphis initiiert wurde. Die Gothic Rock-Szene ist kleiner geworden und hat sich in verschiedenste Lager geteilt. Eine gesunde Undergoundbewegung sollte in der Lage sein zu wachsen, sprich, andere Leute dafür zu begeistern.

Was mich richtig auf die Palme bringt: Die Oberflächlichkeit ist dadurch entstanden, daß andere Bands andere Musikrichtungen häppchenweise implementieren, streckenweise kopieren.

Ich stehe seit Jahren dafür ein, daß ich mir kein Sisters-Of-Nephilim-Riff klaue. Ich versuche mir meine Eigenständigkeit herauszuarbeiten generell sehr schwierig ist. Insbesondere, wenn ein Klischee wichtiger als die Musik, al​so eine Band nicht mehr nach ihrer musikalischen Leistung beurteilt wird, son​dern daran, wie gut das Klischee erfüllt wird, also nach Outfit, Wellanschauung usw.

Den momentanen Gothic-Trend begrüße ich, denn dafür habe ich die ganze Zeit gekämpft. Schade ist, daß der erneute Aufschwung des Gothic nicht durch die Kombination aus Gothic-Medien, der Szene und deren Künstlern aus dem eigenen Kreis initiiert wurde, sondern primär durch Metalbands.

Ich will niemanden einem Vorwurf machen, erwarte aber dann auch mehr Toleranz und Akzeptanz für Bands des eigenen Lagers. Die Art und Weise, wie Gothic-Metal-Bands Gothic in ihre Musik integrieren, ist meistens langweilig. Es gibt seit Jahren Bands aus unseren eigenen Reihen, die eigenständiger und intelligenter Gothic-Rock spielen. Außerdem klingen inzwischen die sognannten Metalbands eher wie eine Rockband.

Wenn jetzt plötzlich ein Metalhead die Roots kennenlernt, aber nur an der Oberfläche, dann ist das o.k., aber ich glaube nicht, daß mir diese Leute wirk​lich erzählen können, wo das herkommt. Ich habe erst letzte Woche ein In​terview gemacht und die Historie von Gotikmusik erklären müssen, das hat der Typ alles nicht gewußt. Das ist das, wo ich an fange zu heulen. Daß es in den frühen 80cr Jahren eine Gegenbewegung zur Punkmusik war, das weiß keiner. Wo die Idee herkam, die ist verschwunden, und die interessiert auch keinen. Ls interessiert sich keiner mehr für die Inhalte, es ist nur noch ein D- Minor-Riff, eine bestimmte Art, die Gitarren zu spielen, eine bestimmte Me​lancholie, und das ist momentan Gothic.

Die Zeiten haben sich ja auch geändert. Früher konnte man in seinem Outfit auch in zur Arbeit gehen, heute sieht die Arbeitsmarktsituation anders aus, man muß sich scheinbar zwangsläufig kleidungsmäßig anpassen. Spielt das vielleicht auch mit hinein?

GUNNAR: Ich habe nach dem Wahlerfolg der DVU gesagt, ich glaube, ich muß wieder Punk werden, wenn diese nichtssagende Masse heute so aussieht. Ich glaube eher, daß wir Zeit haben, wo genau das wieder gefragt ist. Leute, die ich kennenlerne, Leute, die in irgendeiner Führungsposition sind, haben die​se graue, stinkende Masse satt. Du kannst aussehen, wie du willst, wenn du was zu sagen hast und deinen Job klasse machst, dann akzeptiert dich jeder so wie du bist.

Love like BloodDeswegen gucke ich mir lieber alte Recken wie Bowie oder Iggy Pop an und sitze jedesmal fasziniert vorm Fernseher. Dann gucke ich mir bestimmte jun​ge Bands an, die machen ihr Ding klasse, aber da kitzelt nichts. Es ist sehr schwierig wie erzeugst du noch Kitzel, wenn du nichts Besonderes machst? Bei Iggy Pop kommt Charisma rüber, wie erzeugt man das? Da steht jemand auf der Bühne, der hat was, was du vielleicht nicht hast, der hat Glamour und Glitzer, aus irgendeinem Grund.

Musik wird nicht mehr neu erfunden, das finde ich ja am Schlimmsten. Das ist ja das Schwierige, und jeder, der einer neuen Band oder gestandenen Acts den Vorwurf macht, das wäre nichts Neues. Innovatives, dem sage ich, mein Gott, was sitzt du denn da, mach doch was Innovatives. Jeder Technobeat, je​der Punkbeat ist inzwischen ausgeleiert. Es gibt alles.

Der Inhalt von Musik war früher mal so etwas wie eine Philosophie oder für Kids so etwas wie eine eigene Identifikation. Wahrscheinlich ist es heute Play​stationspielen, ich hin der beste in Wipe-Out, da längt dann wohl die eigene Rückgratentwicklung an. O.k. spiele auch Playstation, aber in mei​ner Teenagerphase habe ich in Musik etwas gefunden, was ich geil fand, du hast die Haare und Klamotten so gemacht, du hast dein Ding gefunden, mit dem du dich wohl fühlst.

Früher wurde man im Alter von 15, 16 Gruftie, weil man auf der Suche nach sich selbst war. Man ist noch formbar, und da können auch andere Kräf​te ansetzen. Glaubt ihr, daß der S/M-Bereich seine Opfer in der schwarzen Szene sucht, um seine Gelüste dort ausleben zu können?

TILO WOLFF: Junge Leute sind immer sehr leicht manipulierbar, aber ich glaube nicht, daß die benutzt werden, sondern daß sie selbst auf der Suche nach ihrer eige​nen Sexualität sind und das auch mit ausprobieren, weil es halt trendy ist. Ich glaube aber auch, daß sich erst jetzt ein großer Teil outet, weil es vorher ein​fach nicht gesellschaftsfähig war.

GUNNAR: Aber sie werden von einem Großteil locker und lässig mißbraucht, lauter geile, wichsende Schwanzträger ringsum, die wiederum Musik einen Scheißdreck interessiert, aber wenn nackte Titten und Auspeitschen auf der Bühne sind, dann ist es allemal interessanter als eine Band anzugucken. Das ist wieder dieser Identifikationsverlust. Wenn es Leute machen, die dazu ste​hen und das von Anfang an, wie aus unserem Genre Die Form oder Mozart von Umbra – seit Anbeginn war das deren Bandphilosophie – dann habe ich davor einen Riesenrespekt, obwohl es mir nach wie vor am Arsch vorbeigeht. Aber all die anderen Wichser, dann kann ich gleich für 5 Mark Videokabinen aufstellen. Bands wie Rockbitch, und ich kann auch das, was Atrocity machen, so einfach nicht gutheißen, weil es plump und plakativ ist. Aber es scheint so, als ob die Leute inzwischen die Musik einen Scheißdreck interessiert, also stellen wir ein paar Titten auf die Bühne. So ist es doch. Haben die Bands ir​gendwas mit S/M zu tun?

YORCK: Mich stört das fehlende Selbstbewußtsein der Bands, anscheinend gibt die Musik nicht mehr genug her, um zu begeistern, um eine tolle Show abzu​liefern. Ich bin froh, daß wir nie diesen Weg gegangen sind. Es geht nur um die Musik. Wenn eine tolle Performance abläuft, nichts dagegen, auch nichts gegen schöne Mädchen, die sich auf der Bühne entblößen. Aber das sind zwei verschiedene paar Stiefel, das kann auch dazu gehören, aber nicht, während die Band auf der Bühne ist. Ich lasse bei unserer Show auch keinen Film ab​laufen, die Sachen, die da vermischt werden, tun nicht not.

GUNNAR: So, wir müssen nun packen, das Konzert beginnt gleich.

CREDITS

1998, Frank Rummeleit, Zillo

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