Tilo Wolff ging mit Lacrimosa schon immer seinen ganz eigenen Weg. In den Anfangstagen nicht selten als pathetisch und kitschig kritisiert, vollzog der Wahl-Schweizer über die Jahre einen bemerkenswerten musikalischen und optischen Wandel. Nach Ausflügen in schwermetallische und bombastische Gefilde werden seine aktuellen Kompositionen wieder mehr von geradlinigem dunklen Rock dominiert.

Mit «Revolution» legt der charismatische Bandleader nun drei Jahre nach dem letzten Longplayer «Sehnsucht» ein neues Album vor, das die Herzen der Fans einmal mehr höher schlagen lassen wird. Unterstützt wurde Tilo für die neuen Stücke an der Gitarre von Mille Petrozza, seines Zeichens Sanger, Gitarrist und Mastermind der deutschen Thrash-Metal-Legende Kreator, und am Schlagzeug von Stefan Schwarzmann, der sonst bei Accept die Felle bearbeitet. Eine explosive Mischung, die sich ganz zwanglos ergeben hat, wie der Lacrimosa-Frontmann schildert.

TILO WOLFF: Mille kenne ich schon sehr lange, da er mich einmal als Gastsänger bei einem seiner Songs haben wollte. Der Kontakt riss daraufhin nie ganz ab. Irgendwann stand da also die Revanche in Raum. Als ich ihm ein paar der neuen Songs für dieses Album vorgespielt hatte, war klar, dass er unbedingt hier etwas beisteuern wollte. Stefan habe ich mal auf einem Festival getroffen, als Accept und Lacrimosa auf dem gleichen Event gespielt haben. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und uns immer mal wieder getroffen.

Ob es nun allerdings bei einer einmaligen Kooperation bleibt oder ob sich mehr daraus ergibt, ist gegenwärtig teilweise noch offen.

TILO WOLFF: Also Mille wird sicherlich nicht dauerhaft dabei bleiben, denn sein Hauptaugenmerk liegt natürlich auf Kreator. Da wäre er sehr dumm, wenn er dies aufgeben würde. Was Stefan anbelangt, hatten wir schon Gespräche, ob er fest einsteigt. Das hätte auch fast stattgefunden, wenn er nicht zeitgleich mit unserer Europatour auch mit Accept auf Tour sein würde. Aber wer weiß, eventuell wird die Zusammenarbeit noch enger. Das hängt aber sicher auch davon ab, wie es mit Accept weitergeht.

 

Tilo WolffTILO WOLFF: Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich keiner 100% wohlfühlt.

Eines hat sich trotz dieser bekannten Gastmusiker nicht verändert, die Kompositionsarbeit liegt noch immer ganz in Tilos Hand. Selbst seine langjährige Partnerin, die selbstverständlich auch auf «Revolution» wieder dabei ist, Anne Nurmi, hat hier nur marginalen Einfluss.

TILO WOLFF: Die Songs stammen alle von mir. Ich mache Musik, um das auszudrücken, was ich empfinde. Wenn ein Musiker mal einer Idee ankommt, ich das schön, aber das hat nicht primär mit Lacrimosa zu tun.

Ganz genauso verhält es sich mit den Inhalten der Songs, die ebenfalls rein aus Tilos Feder stammen. Bereits der Name des Longplayers weist kraftvoll den Weg.

TILO WOLFF: Zunächst ist der Titel nicht primär in einem politischen Kontext zu sehen, auch wenn ein kleiner politischer Aspekt bleibt, da Politik inzwischen so viele Bereiche unseres Lebens durchdringt und ich auch ganz generell gegen die allgemeine Politikverdrossenheit bin. In erster Linie ist Revolution aber zwischenmenschlich und gesellschaftskritisch gemeint.

Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich keiner 100% wohlfühlt. Jeder steckt in einem Hamsterrad fest. Vordergründig geht es einem gut, die Menschen besitzen ihre Flachbildfernseher und iPhones, aber letztlich schaffen wir nur Ersatzbefriedigungen. Es fehlen die Werte, die dauerhaft glücklich machen. Viele haben ein Gefühl, als ob es doch noch mehr geben müsste.

«Revolution» ruft dazu auf, über sich und sein Leben nachzudenken und nicht mehr alles kommentarlos mitzumachen. Es gibt das schöne Sprichwort, dass wenn man zur Quelle gelangen will, dann muss man gegen den Strom schwimmen.

Fehr des Mainstreams liegt auch der frische Song «Irgendein Arsch ist immer unterwegs», mit dem wohl ungewöhnlichsten Liedtitel der neuen Scheibe. Tilo hat sich mit diesem Text mal so richtig Luft verschafft.

TILO WOLFF: Es gibt ganz verschiedene Möglichkeiten, wie man mit einer solchen Situation umgeht, wenn dir jemand wahnsinnig auf den Nerven herum trampelt. Ich für meinen Teil kann gut mit solchen Erlebnissen fertigwerden, da ich sie in meiner Musik verarbeiten kann. Man muss aber auch immer berücksichtigen, wenn man sich über jemanden anderen ärgert, dass man oft keine Ahnung davon hat, warum derjenige sich so verhalten hat.

Der Song behandelt grundsätzlich den Gedankengang, dass es einem gerade gut geht und alles läuft, wie es soll. Und dann kommt wieder irgendein Arsch um die Ecke und muss seinen Dreck auf einem abladen. Man kann sich dann tierisch darüber ärgern oder es abspeichern als Vorgang, der einfach dazu gehört. So lässt sich mit dieser Situation viel einfacher leben. Wenn mir also in Zukunft so ein Arsch begegnet, dann werde ich diese Nummer im Kopf haben und stecke es einfach weg.

Kein schlechter Ansatz. Tilo wäre jedoch nicht er selbst, wenn «Revolution» nur aggressive Emotionen enthalten würde. Neben den nach außen gerichteten Texten, die ganz offensiv mit einem Problem umgehen, finden sich auch dieses Mal wieder die für Lacrimosa typisch introvertierten Lyrics.

Tilo WolffTILO WOLFF: Beide Dimensionen sind getrennt voneinander gegeben, aber trotzdem hängen beide Themenkreise eng miteinander zusammen. Das In-sich-Gekehrte, Introvertierte ist auch ein Teil dieser Revolution, denn es muss nicht immer alles nach draußen getragen werden. Man muss nicht immer vor jeder Kamera stehen und sich produzieren oder jeden Gefühlszustand bei Facebook posten.

Das ist auch so ein Zwang in unserer Gesellschaft, sich ständig darstellen zu müssen. Das hat oftmals mit einem Image zu tun, das man aufbaut, als mit dem tatsachlichen Auseinandersetzen, wie es einem geht. Dazu mochte ich Stellung beziehen. Man sollte lieber einmal mehr die Klappe halten und dafür darüber nachdenken, wie es einem wirklich geht, als ständig damit abzulenken, dass man sein Lied öffentlich klagt. Die introvertierten Stücke sind deshalb für mich ein wichtiger Bestandteil des Themas «Revolution».

Parallel zu den Texten wirkt auch die Musik auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

TILO WOLFF: Es gibt eben nicht nur eine Sichtweise, eine Facette. Ich trage nicht nur ein Gefühl mir. Es ist immer alles sauber und emotional anrührend, sondern manchmal auch aggressiv. In jedem Menschen finden so viele verschiedene Gefühle statt, Lacrimosa ist dann eine der wenigen Bands, die wirklich alle Gefühle zum Ausdruck bringt.

Letztlich spiegelt sich in der Vielfalt aber auch mein persönlicher Musikgeschmack wider. Wenn ich ein Album höre und der dritte Song klingt immer noch wie der erste, dann ist das nichts für mich. Ich suche nach dem Spannenden und Neunen. So habe ich auch immer den Anspruch an meine eigenen Werke, dass sie mir gefallen sollen, und daher muss eine gewisse Abwechslung gegeben sein.

Ein Kriterium, das die Fans über die Jahre zu schätzen wussten.

Für die Tour zum Album hat sich Tilo dann auch etwas Besondres überlegt.

TILO WOLFF: Zum ersten Mal wird es keine Vorgruppe geben, um wirklich keine Ablenkung von Lacrimosa zu schaffen. Die Fans können sich auf ein abendfüllendes Programm freuen, bei dem wir natürlich die neuen Songs vorstellen, aber auch sehr viel in unsere Historie greifen werden und extralange Konterte spielen. Ein Abend mit 100% Lacrimosa steht so dem Publikum bevor.

Wenn das kein Grund ist, sich auf den Herbst zu freuen.

 

CREDITS

 2012, Sonic Seducer, Peter Heymann

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