Und so sind es auch zwei deutschsprachige Kompositionen, die Tilo als lyrische Favoriten hervorheben möchte.
‘Einerseits den Opener ‘Die Sehnsucht in mir’, weil ich diesen Text so herrlich romantisch finde. Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Das hört man auch an meiner Musik und das ist zudem der Grund, warum es immer diese Schwarz-Weiß-Cover gibt. Weiß und schwarz – immer die zwei auseinanderliegenden Pole. Auf der einen Seite liebe ich harte, kraftvolle Musik und auf der anderen Seite die gefühlvolle und emotionale Musik. Und das kommt beiLacrimosa immer zusammen. Ich liebe dieses Wechselbad der Gefühle und dieser Text berührt mich enorm. Als ich mit dem Titel fertig war und ihn die ersten Male hörte, konnte ich ihn kaum Korrektur hören, weil er mich emotional so in die Ecke geschmissen hat.’
Und der zweite Text?
‘Das ist ‘Die Taube’, weil dieser Text sehr andersartig für Lacrimosa ist. Ich schreibe selten solche kurzen Geschichten. Meistens sind es sehr metaphernreiche Texte und dieser erzählt eine Geschichte, die zwar auch voller Metaphern ist, aber zunächst ist es eine Geschichte und dazu noch eine sehr bewegende Geschichte, die mich sehr mitgenommen hat.’
Wie Tilo es schon selbst formuliert hat, spielt er mit dem Kontrast zwischen zarten Emotionen und energiegeladener Härte. Gerade in Deutschland hat er oft das Gefühl, dass diese Antithetik im Gesamtpaket auf wenig Akzeptanz stößt.
‘Es ist natürlich so, dass die Menschen in Deutschland bzw. im mitteleuropäischen Raum nicht so emotional sind und das auch nicht zur Kultur gehört. So kann man Lacrimosa hier weniger verstehen wie in Russland oder Lateinamerika, wo die Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen, mit der eigenen Seelenwelt eine viel tragendere Rolle spielt. Gerade die russische Seele ist Emotion pur. Es fällt den Menschen im deutschsprachigen Raum doch eher schwer sich zu öffnen. Von daher glaube ich, dass es ein bisschen zweigeteilt ist. Die einen mögenLacrimosa gerade wegen der Emotionalität, aber die meisten doch eher auf Grund der härteren Seiten und musikalischen Entwicklungen wie z. B. die Konstellation zwischen Gitarren und Orchester. Ich denke, in den deutschen Kopf passt diese Zweigleisigkeit nicht rein. Wir sind es gewohnt oder so erzogen, dass eine Sache eindeutig sein muss. Sie muss in eine Schublade passen, man muss sie genau betiteln können. Das kann man bei Lacrimosa nicht, weil es eher zweigleisig ist. Was mich am Musik machen so reizt, ist das Wechselbad der Gefühle, welches für die deutsche Kultur schwer nachvollziehbar ist.’
Die vielseitigen Facetten der Sehnsucht spiegeln dieses Wechselbad sehr gut wider. Das neue Album ist als ein Begehren nach dem Leben selbst zu verstehen. Für Tilo ist die Angst vor einem ’emotionalen Tod’ deshalb allgegenwärtig.
‘Das sind prägende Erlebnisse und die haben teilweise das aus mir gemacht, was ich heute bin, bzw. die mich überhaupt dazu gebracht haben, einen Zettel und Stift in die Hand zu nehmen und zu schreiben oder Musik zu machen. Ich habe Zeiten erlebt, in denen ich nicht wusste, ob ich dort überhaupt irgendwie herauskomme, es verkraften oder überleben kann. Es gibt diesen blöden Satz ‘Zeit heilt alle Wunden’. Das ist kompletter Schwachsinn. Wenn man ein paar Narben mit sich rumträgt, erlebt man es immer wieder, dass etwas aufplatzen kann.’
Optisch symbolisiert wird die Sehnsucht durch ein loderndes Feuer, aus dem eine nackte Frau auf einem sich aufbäumenden Rappen entspringt. Auffällig ist allerdings, dass Tilo mit dem farbigen Cover der Special Edition sein alt bewährtes Schwarz-Weiß-Konzept, welches seit Lacrimosas Anfangstagen zusammen mit Artworker Stelio Diamantopoulus ausgearbeitet wurde, durchbrochen hat.
‘Ich hatte ihm gesagt, dass er dieses Feuer lebendig zeichnen soll. Und als ich es bekommen habe, war ich so begeistert, denn ich kann diese Flammenbewegungen jedes Mal richtig sehen. Ich finde, er hat das großartig umgesetzt. Und wie es bei Lacrimosa manchmal so ist, und das ist auch ein Punkt, den viele so missbilligen, gehe ich manchmal noch einen Schritt weiter als eigentlich erlaubt ist. Ich spürte, dass es noch nicht reicht und noch extremer werden muss. Zunächst hatte ich die Idee, dass nur ein sanfter Lichtschein auf das Feuer fällt, so als ob man dieses Bild vor eine Kerze halten würde. Das haben wir zwar ausprobiert, aber es entsprach nicht meinen Vorstellungen. Wir haben es dann so beleuchtet, dass es noch auf die Pferde, die Bäume, den Harlekin usw. abstrahlt. Und es sieht wunderbar aus.’
Aber wie findet Artworker Stelio, der selbst ernannte Seelenverwandte Tilo Wolffs, diese Idee? Lachend antwortet er:
‘Der hat es noch gar nicht gesehen. Das haben wir letztendlich am Computer gemacht. Aber ich präsentiere ihm das demnächst. Wir werden in Deutschland 9 m² große Plakatierungen machen und ich möchte, dass er es dort in dieser Größe sieht. Ich hoffe, dass es ihn wirklich erschlägt und er total begeistert sein wird.’
Abgesehen von der äußeren Verpackung unterscheidet sich das reguläre Lacrimosa-Album auch musikalisch von der Special Edition, bei der sechs Songs in alternativen Versionen eingespielt wurden. Aber wenn Tilo sein Werk aus den Blickwinkel seiner Fans betrachten würde, fiele seine Entscheidung beim Kauf dennoch auf die reguläre CD:
‘a) die passt zu meiner Kollektion, die ich hoffentlich als Lacrimosa-Fan im Schrank habe (lacht). Und
b) sind die Songs in der Originalversion, wie sie hauptsächlich erdacht sind.’
Aber wozu dann die Special Edition?
Ich hatte vorhin erzählt wie spontan das Album im Studio entstanden ist. Das hat mich sehr daran erinnert wie wir auf der Bühne spielen. Dort variieren wir die Songs teilweise, je nachdem wie uns das Publikum motiviert und inspiriert. Das heißt, ich singe einfach irgendwie weiter und die Musiker müssen mitspielen und improvisieren. Diesen Livegedanken wollte ich in die Produktion hineinnehmen. Dabei haben sich sehr interessante neue Herangehensweisen an die Titel ergeben.
Während in Deutschland schon seit längerem die Single ‘Feuer’ erhältlich ist, haben sich Lacrimosa in Russland für ‘I lost my star in Krasnodar’ entschieden.
‘Das Lied Krasnodar handelt von der russische Stadt bzw. den Erlebnissen, die wir dort hatten. Wir hatten eigentlich gar nicht vor, dort eine Single zu machen. Ich spielte der russischen Plattenfirma den Song vor und fragte sie, ob sie nicht daraus eine Single machen wollen, wenn ich ihnen ein paar Zeilen auf russisch einsinge und die Nummer noch einmal neu produziere. Natürlich wird sie auch über den Hall of Sermon Shop hier erhältlich sein, damit der Sammler seine Sammlung komplett hat. Aber unsere Entscheidung fiel hier auf ‘Feuer’, weil die Nummer besser zum deutschsprachigen Raum passt, aber nicht unbedingt wegen der Sprache, sondern wegen der Art, wie sie gestrickt ist. Es ist eher eine preußische Nummer.’
Während er den letzten Satz artikuliert, lacht er verwegen und erklärt weiter, warum ‚Feuer’ auf nur 1000 Stück limitiert wurde.
‘Ich finde, eine Single sollte etwas besonderes sein und auch bleiben. Die Alben kann man immer und überall kaufen, aber eine Single ist eher etwas für Die-Hard-Fans. Sie ist eine kleine Belohnung dafür, dass man auf unserer Website ständig nach Neuigkeiten Ausschau hält.’
Eine zweite Single zum Album wird es allerdings nicht geben.
‘Ich finde es immer komisch, eine Single hinterher zuschieben. Vorab ist es klasse, aber wenn das Album erst draußen ist, kennt eigentlich jeder schon alles. Und diese zusätzlichen Extras noch raufzupacken, nur damit man einen Grund zum Kauf hat, klingt immer sehr stark nach Abzocke.’
Eine kleine Anmerkung dazu: man hätte sich theoretisch auch dazu entscheiden können, die sechs alternativen Songversionen der Special Edition als Bonusmaterial auf das reguläre Album zu packen, damit die interessierten Fans nicht zweimal in die Tasche greifen müssen! Noch was wichtiges?
‘Wir werden im September für voraussichtlich sechs Konzerte in Deutschland halt machen.
whiskey-soda.de, 2009
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