Endlich, das zehnte Studioalbum „Sehnsucht“ steht in den Startlöchern und Tilo Wolff ist auch dieses Mal seiner Linie treu geblieben und hat für Lacrimosa ein neues Stück Musikgeschichte geschrieben. Musikalisch geht es ein bisschen „back to the roots“ aber trotzdem animieren die Songs erneut zum Nachdenken und lassen Platz für Interpretationen. Tilo war in bester Plauderlaune um über das neue Album und dessen Inhalt zu sprechen.
Seit unserem letzten Interview sind ja nun schon fast zwei Jahre vergangen. Ich hoffe der größte Stress ist jetzt mit der Fertigstellung des neuen Albums vorbei. Wie geht es Dir und wie ist es Dir in der Zwischenzeit ergangen.
TILO WOLFF: Ja gut, einerseits war es eine spannende Zeit, wo ich mich jetzt wieder mal ganz auf den kreativen Prozess konzentrieren konnte, nachdem ich so lange Zeit auf Tour war und dort ja nicht wirklich kreativ arbeiten konnte. In der Zwischenzeit hatte ich mir mein eigenes Studio umgebaut, dass ich jetzt dort fast die komplette Produktion selber machen konnte, was natürlich den großen Vorteil hat, dass ich wann immer ich wollte komponieren und produzieren konnte ohne dass ich mich an feste Studiozeiten oder Verfügbarkeit von Musikern kümmern musste.
Das ist natürlich nicht schlecht. Jetzt erscheint am 08. Mai das neue Album „Sehnsucht“. Im Vorfeld ist ja wirklich sehr wenig darüber bekannt geworden und man kann in den Fanforen lesen, wie sehr dort schon gerätselt wird. Welche Bedeutung hat der Albumtitel dieses Mal?
TILO WOLFF: Es geht im Prinzip um die verschiedenen Facetten der Sehnsucht. Sehnsucht, wenn man profan das Wort hört, denkt man an ja an die Sehnsucht nach irgendeinem fremden Land oder vielleicht auch eine zwischenmenschliche oder sexuelle Sehnsucht. Das findet hier auf dem Album auch gewissermaßen statt, aber es gibt noch weitere Facetten der Sehnsucht. Die Sehnsucht ist eigentlich eine Antriebsfeder, das Thema Energie. Ich sehe die Sehnsucht als eine sehr umweltfreundliche und immer wieder erneuerbare Energie die den Menschen antreibt und die ihn in Situationen bringt, die ihn dazu bringt vieles zu erreichen, weiter zu kommen als der Verstand manchmal in der Lage ist sich das auszudenken.
Dort wo der Verstand nicht mehr hinkommt, kann die Sehnsucht einen hintreiben. Und es gibt natürlich auch die Gefahr bei der Sehnsucht, es gibt viele Menschen die werden zum Sklaven ihrer Sehnsucht. Das ist natürlich die negative Seite, aber wie es bei Allem im Leben ist, liegt es im Prinzip immer an der Entscheidung des einzelnen Menschen was er aus den Dingen macht und was er dagegen tut. Hier sehe ich eben sehr viel Potential in der Sehnsucht, oder besser die Symbiose zwischen Mensch und Sehnsucht ist sehr faszinierend, weil die Sehnsucht den Menschen eben zu Dingen führen kann, die er wie gesagt ohne diese nicht erreichen könnte.
Ja aber das ist einerseits schon recht positiv, aber andererseits kann ja diese Sehnsucht auch teilweise ins Negative richtig umschlagen.
TILO WOLFF: Ja, das ist wenn man nicht Herr der Sehnsucht wird. Wenn man der Sklave der Sehnsucht ist, wenn die Sehnsucht einen übermannt, wenn die Sehnsucht stärker wird als man selber und man nicht mehr in der Lage ist sie zu kontrollieren und sie nicht mehr als Antrieb, sondern nur noch als Belastung wahrnehmen kann. Dann ist da natürlich eine gewisse Gefahr drin, aber es gibt ja im Prinzip immer die Möglichkeit auch die Notbremse zu ziehen. Die Sehnsucht ist ja nicht was von Rechtswegen einem auferlegt wird, so dass man ihr folgen muss. Sondern es liegt ja im Prinzip an einem selbst, in wie weit man die Sehnsüchte zulässt und in wie weit man ihnen folgen will.
In Bezug zur Musik habt Ihr ja auch immer das Coverartwork gestaltet. Welche Bedeutung hat dieses Mal das Bild der nackten Frau auf dem steigenden Pferd, welches in lodernden Flammen steht umgeben von einem lautlosen dunklen Wald? Irgendwie bekomme ich da nicht den richtigen Bezug zum Titel, könntest Du das ein wenig erläutern?
TILO WOLFF: *lacht* Ja, also wenn man auf dem Backcover erstmal anguckt, dass der Harlekin dieses Feuer entfacht hat, der also als Bandmaskottchen dafür steht, dass wir hier mit diesem Album die Sehnsucht, bzw. unsere Sehnsucht entfacht haben und das Feuer ist Sinnbild für die brennende Sehnsucht um einerseits diese Energie die aus diesem Feuer erwacht und andererseits aber auch die Gefahr über die wir gerade gesprochen haben, die in der Sehnsucht liegt. Ja das Feuer was alles vernichten kann, also demzufolge dieses Bild des Feuers als Sinnbild der Sehnsucht. Aus dieser dann heraus das Pferd steigt.
Das Pferd als Sinnbild für die Kraft, für die Schönheit der Sehnsucht und für diese Aufbruchsstimmung, sich auf das Pferd zu schwingen und in die Freiheit zu reiten. Nicht um vor etwas zu fliehen, sondern um etwas Neues zu entdecken und das Pferd halt in all seiner Schönheit, um zum Ausdruck zu bringen, dass es hier in erster Linie um die positiven Aspekte der Sehnsucht geht. Also, dass es mir nicht darum geht *lacht* ein Album zu machen, dass sich irgendwie um Selbstmitleid dreht.
Die Dame auf dem Pferd ist ja unsere alte Bekannte, die Elodia, die ja vor 10 Jahren im Prinzip gestorben ist auf dem Album „Elodia“ und hier als Sinnbild, dass sie zurückkehrt, dass die Sehnsucht stärker ist als der Tod, dass die Sehnsucht eben weiter gehen kann und sie kommt auch hier nicht in der Physis in der wir sie kennen von „Elodia“, sie kommt so wie 1993 auf dem Album „Satura“, wo sie zum ersten Mal auf einem Lacrimosa-Album erschienen ist, eben wieder ganz als Geistesgestalt so zu sagen, wie sie damals auch sehr surreal in dem Cover eingebaut war, kommt sie hier eben auch in gleicher Statur wieder und gleichzeitig eben auch sehr verwundbar, was eben auch diese Fragilität der Sehnsucht wieder zum Ausdruck bringt.
O.K., das Backcover lag mir leider nicht vor, sondern nur das Frontcover, somit wusste ich nicht, dass der Harlekin das Feuer entfachte, aber durch diese Erklärung macht das Ganze doch schon Sinn. Aber nun zu den Songs. Eure Songs lassen ja oft viel Platz für eigene Interpretationen der Hörer. Auch dieses Mal kann sich jeder seine eigenen Gedanken zu den einzelnen Gestalten der Sehnsucht machen, jedoch würde ich gerne wissen, was es mit dem Song „Die Taube“ auf sich hat. Hier erschließen sich mir gleich zwei Facetten der Sehnsucht, einerseits gehe ich von einer Sehnsucht nach Geborgenheit aus, andererseits könnte es auch die Sehnsucht nach Verzeihung sein. Liege ich da richtig oder komplett falsch?
TILO WOLFF: Nee, Du liegst mit Beidem ziemlich am Kern der Sache. Einerseits die Taube selbst, dass ist die Titelfigur, da geht es definitiv um die Geborgenheit, die sie sucht. Sie ist ja auch als Sinnbild dieser Taube die Noah nach dem Bau der Arche nach der Sinnflut ausgesetzt hat um trockenes Land zu finden, damit die Taube sich ein Nest bauen kann. Also wenn sie nicht mehr zurück kommt war das das Zeichen für Noah, es ist wieder Land, Trockenheit da, wir können wieder Häuser bauen.
Und so steht sie halt als Sinnbild dafür, sie sucht ein Nest, sie sucht ein Zuhause und ihr Sohn, der in der Geschichte beschrieben wird, der auch gewissermaßen nach Geborgenheit sucht aber auch nach der Erfüllung unausgesprochener Sehnsüchte. Also hier geht es wirklich um die Essenz der Sehnsucht, nicht nur die Sehnsucht für etwas sondern die Sehnsucht als Essenz dessen, dass man eine Sehnsucht nach dem Leben zunächst mal hat, eine Sehnsucht nach unausgesprochenen, unartikulierbaren Dingen, die einen gewissermaßen umgeben, die einen auffangen, respektiv die einem fehlen, wer man eigentlich selbst ist.
Ich hab den Eindruck, dass es viele Menschen gibt, die sich wenig reflektieren, die aber sehr große Defizite mit sich herumtragen aber die sich nicht wirklich artikulieren können. Es geht jedem im Prinzip gewissermaßen so, manchen mehr, manchen weniger und oftmals führen diese unausgesprochenen, unerkannten und undefinierten Sehnsüchte zu Kurzschlusshandlungen, die ein Leben von jetzt auf gleich komplett verändern, in die falsche Bahn lenken oder beenden können und das ist im Prinzip hier so diese Geschichte oder besser ein Teil der Geschichte die hier erzählt wird.
Ja gut, aber ich habe das Gefühl, dass der Sohn aber diese Sehnsucht nach Geborgenheit in seiner eigenen Familie dann doch gefunden hat.
TILO WOLFF: Die hat er in so fern gefunden aber natürlich ist das ja nur eine Kompensation dessen, was er vorher nicht gefunden hat, respektiv was er vorher sogar zerstört hat. Er hätte die Familie wieder haben können, weil sie wieder zusammengewesen wäre, wenn es nicht zu dieser Kurzschlusshandlung gekommen wäre und er nicht seinen eigenen Vater umgebracht hätte. Und dem zu Folge hat er eigentlich dieses Fundament der Geborgenheit nie erlebt, er versucht es jetzt in seiner eigenen Familie nachzuleben, kann das Fundament dann vielleicht in seine eigene Familie einbauen, also bei seinem Nachwuchs, aber für ihn selbst hat das nie stattgefunden. Er hat kein Fundament auf dem er aufbauen kann und daran ist er sogar teilweise selbst schuld.
Auch Feuer ist ein sehr interessanter Song. Im Refrain besingt ihr die schlechten Charaktereigenschaften eines Menschen wie Ignoranz, Selbstgefälligkeit, Besserwisserei und Egoismus. Woraufhin dann als krasser Gegensatz ein lieblicher Kinderchor den zweiten Teil des Refrains singt der für mich so ein bisschen nach Fegefeuer klingt. Geht es dabei um die Sehnsucht einer gedemütigten Person, die irgendwo Gerechtigkeit bzw. Vergeltung haben möchte?
TILO WOLFF: Ja, im Prinzip geht es hier schon um die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach Vergeltung und deswegen ist dieser Titel auch gewissermaßen mit einem Augenzwinkern produziert, weil Gerechtigkeit ist ja sehr relativ und der Wunsch nach Rache entsteht ja meistens aus einer verletzten Eitelkeit heraus. Und deswegen ist das Gefühl der Rache eigentlich eins der lächerlichsten Gefühle, die wir Menschen produzieren können, trotzdem tun wir es die ganze Zeit.
Und ich denke, auch gerade in der heutigen Gesellschaft in der es sehr viel um miteinander vergleichen und miteinander messen geht, wird das Thema Rache immer wichtiger, weil man sich immer wieder in Situationen wiederfindet, in denen man den Vergleich nicht gewinnen kann. Das ist ganz logisch und die Vernetzung forciert das natürlich mehr und mehr. Also dem zu Folge ist es ganz klar, diese Sehnsucht nach Rache, die durchaus nachvollziehbar ist und die gewissermaßen ihre Berechtigung hat, aber im letztendlichen Rückschluss natürlich auch eben wieder reflektiert werden sollte und nicht unbedingt 1:1 so dastehen sollte, weil wenn jeder Mensch nach Rache schreien würde, dann gibt es bald keine Menschen mehr.
Dem zu Folge habe ich dort diesen Kinderchor mit reingenommen, um dem ganzen einerseits eine weitere Ebene zu geben, weil wenn zunächst mal unschuldige Kinder, o.k. wir wissen alle, dass Kinder gar nicht mal so unschuldig sind, aber zumindest ihre Stimmen machen doch einen sehr unschuldigen Eindruck *lacht* und sie singen solche Zeilen, da treffen dann doch Welten aufeinander, was ich eben sehr passend für den Ausdruck hier fand. Auf der anderen Seite sind die Kinder deswegen auch am Start um dem Ganzen eben so eine gewisse Unernsthaftigkeit zu geben. Wobei es eben auch ganz interessant war bzw. auch ganz spannend war den Eltern der Kinder erstmal klar zu machen was die Kinder da für einen Text singen.
Da waren bestimmt einige Eltern nicht unbedingt mit einverstanden, oder?
TILO WOLFF: Ja also im ersten Moment waren sie schon so ein bisschen verwirrt aber dann hat ein Kind selbst die Situation gerettet. Während ich noch versucht habe das zu erklären meinte ein Kind: das ist doch aus einem Märchen, oder? Und ich so: ja ja das ist ein Märchen genau, ja das ist richtig. Und die Eltern dann so: ach ja gut, ja dann ist gut um 17 Uhr soll es dann zu Hause sein, o.k. *lacht* Es war schon lustig.
War das sehr anstrengend mit den Kindern zu arbeiten, oder war es eher easy?
TILO WOLFF: Nee, es hat total Spaß gemacht, ich wollte auch erstmal rum experimentieren, ich bin jetzt nicht davon ausgegangen, dass es so super wird, dass das alles auf Anhieb klappt und hab das eigentlich eher erstmal so aus Spaß versucht. Es war relativ spontan, ich hatte vorher die Idee und habe dann Freunde und Bekannte und Verwandte angerufen und hab mir die Kinder vorbeibringen lassen und das ging eigentlich dafür, dass noch nie so eines dieser Kinder jemals vor einem Mikrofon gestanden hat relativ entspannt. Aber ich glaub das war eben auch diese Atmosphäre. Die Kinder kannten mich und waren von dem her ruhiger, jetzt nicht irgendwie so jetzt machen wir Aufnahmen, ruhig und Achtung und so. Wir hatten halt einen schönen Tag zusammen und am Ende hatten wir schöne Aufnahmen und die Kinder fanden es super spannend. Ich glaub, ich hatte eigentlich noch nie so schöne Aufnahmen, so schöne relaxte Aufnahmen wie mit den Kindern.
Das hört sich ja super an. Könntest Du Dir vorstellen, dass Du noch mal mit Kindern zusammen etwas aufnimmst oder war das jetzt eine einmalige Angelegenheit?
TILO WOLFF: Och Du, wenn mir noch mal was einfällt, was irgendwie Sinn macht, warum nicht? Klar.
Also ich hab mal so ein bisschen gegoogelt bezüglich des Songs „Mandira Nabula“ und dessen Bedeutung. Einzig ein Ort in Mexiko ist bei der Suche rausgekommen. Hat der Song etwas damit zu tun? Oder steht der Titel einfach nur als Synonym für das im Lied besungene Fernweh und dass man alles was man kennt hinter sich lassen möchte?
TILO WOLFF: Erstmal freue ich mich total, dass Du den Titel so hundertprozentig interpretiert hast, weil mich haben schon viele Leute gefragt, was willst Du eigentlich mit dem Song zum Ausdruck bringen? Ich finde den Song zwar toll aber irgendwie weiß ich nicht worum es da geht. Und da freue ich mich wenn jemand das genauso auf den Punkt bringen konnte wie Du das gerade gemach hast.
Danke.
TILO WOLFF: Der Titel selbst ist im Prinzip eine Art, ja ähm, ob es jetzt eine Phantasiesprache ist oder, ja eigentlich ist es nur ein Code. Und zwar ist es eine Kombination von Buchstaben, die aufgeschlüsselt für mich den tatsächlichen Titel bedeuten. Der Punkt ist der: ich bin ja sehr offen in meinen Texten und sag oftmals was ich fühle aber ich will nicht immer sagen warum. Ich will nicht immer sagen warum ich das fühle. Und das Warum ist in dem Titel versteckt, das Was ist in dem Songtext versteckt. Ich hatte schon mal vor ein paar Jahren was Ähnliches gemacht und hab mir dann aber keine Eselsbrücke gebaut, sondern habe dann einen anderen Titel genommen, der zu dem Text auf jeden Fall passt, aber der auch keine Fragen aufkommen lässt.
Ich hab inzwischen aber leider komplett vergessen, was die tatsächliche Bedeutung für den eigentlichen Titel war. Und damit mir das nicht noch einmal passiert habe ich mir dieses Mal eben diese Eselsbrücke anhand der Buchstabenkombination „Mandira Nabula“ gebaut und so kann ich nicht vergessen worum es eigentlich wirklich geht oder die genaue Formulierung dafür nicht vergessen und es ist trotzdem ein klanghafter Titel der durchaus sogar Sinn macht auch wenn man nicht weiß was dahinter steckt.
Das letzte Lied auf der CD ist „Koma“. Das erinnert mich so ein bisschen an „Der Letzte Hilfeschrei“ von Eurem ersten Album. Kann man Koma in gewisser Weise als Weiterführung sehen? Die Sehnsucht nach Leben, so nach dem Motto: mit dem Tod ist vielleicht nicht alles vorbei?
TILO WOLFF: Absolut. Ein Grund warum ich die Elodia hier auf das Cover zurückgeholt habe ist, weil ich die Platte emotional sehr eng angebunden empfinden an die ersten drei Alben. Das stimmt absolut, auch die Verbindung hier zu den alten Songs, zu den Emotionen die in den alten Liedern sehr stark im Vordergrund standen, ist hier absolut gegeben. Also ich empfinde den Song folgendermaßen, wir haben hier ja einerseits dieses Streicherthema was ja doch recht lebendig und wach klingt und dort sehe ich eigentlich den wachen gesunden Körper der schon aus dem Bett springt so zu sagen, während der Geist noch im Koma liegt und noch gar nicht mitbekommen hat, was eigentlich passiert. Es geht hier um die Sehnsucht nach Leben, nach Wahrhaftigkeit.
Wenn man also gemerkt hat, ich lebe aber ich erfasse es noch nicht ganz, da ist noch viel mehr, da steckt noch viel mehr dahinter und ich will es ganz erfassen. Kleines Beispiel, mir geht es manchmal so, wenn ich vor einem Blumenstrauß stehe und sehe einfach nichts und dann sagt jemand, das ist ein wunderschöner Blumenstrauß und erst dann sehe ich, dass ich direkt davor stehe und er wirklich schön ist. Weil ich einfach nicht gewohnt bin auf Blumen zu achten, obwohl ich sie sehr schön finde, wenn ich sie dann mal sehe. Und so geht es oftmals, dass man Dinge einfach übersieht, man übersieht oftmals die wesentlichen, die kleinen Dinge, die das Leben aber ausmachen, die Schönheit mit reinbringen.
Man übersieht auch manchmal, dass der Mensch mit dem man spricht, dass dieser Mensch einem etwas anderes sagt, als was er wirklich empfindet. Also es geht hier um Wahrhaftigkeit, die Menschen so zu erfassen wie sie wirklich sind und sich selbst auch zu erfassen und sich selbst auch einzubringen, wie man sich selbst erkannt hat. Man ist angewiesen auf die Betrachtung oder sagen wir mal, auf die Ergebnisse der Sinne, die einem entgegen gebracht werden. Wir haben unsere Sinne und so erfassen wir die Welt und jeder auf seine eigene Art und Weise, aber da können die unterschiedlichsten Dinge bei raus kommen. Ich habe eine gute Freundin, die ist, ja ich weiß nicht ob sie wirklich Farbenblind ist, aber es gibt gewisse Farbtöne die sie komplett anders wahrnimmt als ich sie wahrnehme.
Da kann durchaus für mich mal ein ganz astreines Blau für sie Grün sein. Das ist ganz faszinierend und sie kennt es nicht anders und das meine ich. Es gibt eben auch so eine emotionale Wahrhaftigkeit, für manche gibt es eben auch gewisse Dinge, die können z. B. eine gewisse Emotionalität gar nicht erfassen, können gewisse Menschen nicht begreifen, wie andere Menschen vielleicht mit Gewalt überhaupt nicht umgehen können oder die mit dem Rachegedanken z. B. nicht umgehen können. Und diese Wahrhaftigkeit aufzuwachen, aus diesem Koma herauszukommen, aus diesem Dauerschlaf der eigenen zurechtgeschusterten Welt aufzuwachen und versuchen die Dinge ein bisschen nüchterner, ein bisschen klarer wahrzunehmen, das ist dieser Aufschrei hier im Koma.
Aber ist das nicht momentan sowieso ein Problem unserer Gesellschaft, dass wir im Endeffekt eigentlich den Blick auf das Wesentlich verlieren, dass man die Kleinigkeiten einfach schon fast gar nicht mehr wahrnimmt, weil es in unserer Gesellschaft gar nicht mehr gefordert ist?
TILO WOLFF: Definitiv, sehe ich genauso. Da liegt natürlich eine ganz große Gefahr drin und ich denke auch, dass das schlimmer und schlimmer und gefährlicher wird, weil sich die Gesellschaft ja mehr und mehr in eine Richtung entwickelt, die der menschlichen Psyche oder dem menschlichen Bedürfnissen eigentlich überhaupt nicht entspricht.
Also könnte man Koma jetzt im Endeffekt so als, ja Mahnmal sehen, so nach dem Motto: Leute freut euch auch an Kleinigkeiten, nehmt auch die kleinen Dinge des Lebens wahr?
TILO WOLFF: Sagen wir mal so, für mich persönlich vielleicht. Ich möchte mit meiner Musik niemals den Zeigefinger erheben und ich habe auch nicht den Anspruch daran, dass diese Musik irgendetwas verändern wird in dieser Welt. Aber ich nehme es für mich so und wer es beim Hören für sich vielleicht ähnlich nehmen möchte, der darf das natürlich sehr gerne, aber ich finde es sehr wichtig, dass Musik immer und auch Musiker sich immer bewusst sind, dass sie die Welt damit nicht groß verändern können und es vielleicht auch gar nicht sollten, weil ein Künstler ist letztendlich ja auch nur dann Künstler oder nur deswegen Künstler geworden, weil er irgendetwas zum Ausdruck bringen will, was aus seiner persönlichen Psyche heraus oder seinem Gedankengut heraus entspringt und hat damit überhaupt gar keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Und wenn es dann manchmal Ausnahmeerscheinungen gibt wie vielleicht jemand wie John Lennon der tatsächlich mit seiner Musik gewissermaßen die Welt verändert hat, dann ist das vielleicht mal gut, mal natürlich auch nicht so gut, wenn es passiert. Es gibt auch viele Negativbeispiele, aber es sollte letztendlich immer ein kleines Kunstwerk bleiben und niemals den Anspruch erheben, hier ist eben ein Mahnmal entstanden was jetzt die Welt verändern sollte. Es ist sowieso interessant, denn die Musik wird ja in den unterschiedlichsten Kulturen ganz anders aufgenommen. Ich sehe vieles natürlich aus der mitteleuropäischen Kultur heraus, aber wenn ich denke, unsere Musik wird ja hauptsächlich in ganz anderen Ländern gehört, in denen es auch andere Kulturen gibt, in Russland, in Lateinamerika oder auch in Asien. Es gibt ganz andere Maßstäbe und dort wird auch Lacrimosa teilweise anders interpretiert. Alleine deswegen schon ist dieser Anspruch sehr relativ, weil er eigentlich nur einem mitteleuropäischen Anspruch gerecht werden kann.
Meine nächste Frage hast Du eben schon zum Teil beantwortet. Mir war beim Hören aufgefallen, dass mich einige Eurer neuen Songs wirklich an ältere Songs von Euch erinnern. War das so beabsichtigt auch wieder mal alte Elemente einfließen zu lassen und so eine Verbindung zu Euren älteren Songs, zu den Wurzeln zu schaffen?
TILO WOLFF: Also beabsichtigt war das eigentlich nicht, weil ich wenig zurückblicke. Ich höre mir zwar die alten Alben nach wie vor gerne an, aber es ist für mich sehr unbefriedigend Altes aufzuwärmen. Aber da ich sehr intuitiv gearbeitet habe, sind gewisse Dinge so auch entstanden. Ich kann mich daran erinnern, dass ich das erste Demo, wo ich noch gar nicht sicher war, ob es so eine gute Idee ist für mich selber hier alleine aufzunehmen, weil es ist auch gewissermaßen gefährlich wenn man gar niemanden mehr um sich hat, dass man sich verrennen könnte. Dann habe ich das erste Demo Anne vorgespielt, weil sie muss ja schließlich mit ihrem Namen da auch drunter stehen, und ich hab sie gefragt, ob dass Sinn macht, ob das für sie aufgeht. Anne hat dann sofort gesagt: ich hab das Gefühl du hast die Seele von Lacrimosa erfasst.
Und dass beantwortet eigentlich die Frage, offensichtlich bietet sich diese intuitive Art und Weise des Komponierens automatisch wieder an die Wurzeln, an die Kernaussagen oder Kernemotionen, weswegen ich überhaupt Musik mache oder auch diese Freude, alleine diese Freude Musik zu machen mit Sounds zu experimentieren und zu spielen, ganze Tage und Nächte damit zu verbringen einfach nur an Sounds rumzuschrauben. Diese Faszination dafür, die konnte ich hier halt wieder ausleben, weil ich nicht die Uhr im Nacken hatte und weil ich, wann immer ich wollte, ins Studio gehen konnte und ich glaube, dass ist von dem her eher so eine intuitive Verbindung zu den alten Alben die sich da automatisch durch die Arbeitsweise ergeben hat.
Welchen Song werdet Ihr als Single auskoppeln?
TILO WOLFF: Ja die Frage der Single oder die eigentliche Idee einer Single hat für mich inzwischen durch das Internet eigentlich ein bisschen an Witz verloren. Früher war das so, wenn eine neue Single raus kam, dann war das das erste Lebenszeichen eines Künstlers. Man hat vorher vielleicht ein Interview irgendwo gelesen aber man konnte nichts hören. Es gab keine Chance irgendwas zu hören, meistens gab es auch keine Chance zu sehen wir der Künstler inzwischen aussieht. Ich kann mich erinnern früher, wenn die neue Single, ich war ein großer Prince-Fan, wenn die neue Single von Prince raus kam, dann war das ein Highlight und da hat man dann das erste Bild gesehen wie er inzwischen aussieht und wie jetzt die Musik klingt und dann hat man sich am Abend mit Freunden getroffen, hat darüber diskutiert und das war so ein ganz anderes Herangehen an die Musik und an den ersten Auftritt der Musik.
Inzwischen ist die Single das Internet, weil man ja im Internet die Möglichkeit hat mitzubekommen was eigentlich in der Zwischenzeit passiert ist, in welche Richtung es weitergehen wird. Dem zu Folge finde ich diesen Witz der Single, der existiert eigentlich nicht mehr und drum haben wir jetzt über das Internet teilweise schon mal das ausgelebt, was ich früher über eine Single versucht habe auszuleben. Es wird allerdings eine Single in kleiner Form geben und zwar eine Single die nicht in den Handel kommt, sondern die exklusiv über EMP verkauft wird und in erster Linie halt für die Kunden von EMP am Start sein wird und das wird die Nummer „Feuer“ sein. Es wird eine alternative Version von „I Lost My Star In Krasnodar“ drauf sein und es wird die Nummer „The Last Millennium“ geben, die es bisher nur als Bonus auf der special edition der Liveplatte gab, die wir 1997 raus gebracht hatten.
In welcher Stückzahl wollt Ihr die dann exklusiv bei EMP raus bringen?
TILO WOLFF: Wir pressen erst mal 2000 und dann mal sehen, entweder sie ist dann gleich ausverkauft oder wir pressen noch mal nach, je nach dem. Also das müssen wir mal schauen.
Wann wir die Single erhältlich sein?
TILO WOLFF: Ich glaub am 24. April kommt sie raus.
Dann sollte man ja passend zum Datum schnell bei EMP vorbestellen. Obwohl ich sehe die Situation mit der Single etwas anders. Ich bin noch jemand, der auch als Lebenszeichen Singles kauft, letzte Woche beispielsweise habe ich mir noch die neue Depeche Mode Single gekauft. Ich will schon vor dem neuen Album wissen was in der Zwischenzeit passierte, ich hoffe somit, dass eine Single kein Auslaufmodel ist.
TILO WOLFF: Also ich find es sehr schön, dass es in dem Fall noch Menschen gibt, die tatsächlich Singles kaufen wie Du, somit wissen wir schon mal, dass Depeche Mode zwei Singles mindestens verkauft haben *lacht*. Das Problem ist halt einfach, dass es wirklich sehr wenige gibt, die das so noch sehen. Viele haben bei der letzten Single, die wir veröffentlich hatten, gefragt, warum macht ihr das eigentlich, die Singles gibt es doch eigentlich schon überall zu hören im Netz usw. Ich finde das natürlich ultra frustrierend für einen Musiker und es ist halt so, dass der Spaßfaktor für mich ein bisschen fehlt, wenn ich weiß, dass ich die Leute überreden müsste die Single zu kaufen, weil es tatsächlich nur noch wenig gibt, die Freude daran haben.
Hm, dann bin ich wohl einfach schon zu alt. Keine Ahnung. Ich bin es von früher noch so gewohnt und man lässt ja an alten Gewohnheiten schlecht ab.
TILO WOLFF: Ja klar, wir sind so aufgewachsen, das ist unsere Musikliebhaberei und das war für uns immer so und das wird für uns auch immer so bleiben. Aber es ist halt leider so, ich meine, mein Gott es gibt viele die Lacrimosa hören, die waren noch nicht mal auf der Welt als ich angefangen habe. Also wenn man das berücksichtigt, die kennen nichts anderes als ihren I-Pod und da macht ne Single leider gar keinen Sinn, die hat keinen großen Wert mehr.
Ich sag mir dann, wenn es demnächst nur noch heißt, komm lass uns mal Festplatten tauschen, anstatt CDs, dann hör ich glaube ich auf Musik zu hören.
TILO WOLFF: Ja ja, genau.
Wird es dieses Mal auch einen Videoclip zu einem der Songs geben?
TILO WOLFF: Nee, dieses Mal wird es tatsächlich keinen Clip geben, weil wir hatten jetzt so viel mit dem Live-Film „Lichtjahre“ gemacht, dass ich mich jetzt auch erstmal ganz auf die Musik konzentrieren wollte und eben dann zunächst nur an dem Album gearbeitet hatte und Film eher so zweitrangig, weil musikalisch konnte ich mich ja richtig schön austoben und inzwischen ist mir ganz profan die Zeit davon gelaufen, dass ich gar keine Zeit mehr hätte vorab irgendwie für „Feuer“ einen Clip zu drehen.
Wie sieht es denn bezüglich Tourplänen aus? Bisher ist ja nur ein Auftritt auf dem Wasserschloss Klaffenbach bei Chemnitz bekannt. Ist denn auch noch eine größere Welttournee geplant?
TILO WOLFF: Es ist tatsächlich sogar eine Welttournee geplant und zwar fangen wir im Sommer, im Juli voraussichtlich, in Brasilien an und werden dann durch Lateinamerika touren und dann auf der anderen Seite über Asien, China, Russland und uns dann so langsam nach Europa vorarbeiten. In Deutschland werden wir dann voraussichtlich im September, also so rund um dieses Klaffenbach-Konzert, spielen. Dann geht es weiter durch Europa und zum Abschluss dann in Spanien. Dieses Mal aber alles an einem Stück und nicht aufgeteilt in viele Häppchen.
Habt Ihr dieses Mal auch Länder auf dem Plan, wo Ihr noch nie gespielt habt?
TILO WOLFF: Es wird dieses Mal voraussichtlich auch ein paar Länder wieder geben, wo wir bisher noch nicht waren. z.B. ist im Moment Korea, Kolumbien, Japan und Indonesien geplant. Es gibt auf jeden Fall mal wieder ein paar neue Länder wo wir was zu entdecken haben. Da freue ich mich auch drauf.
Wird es wieder eine tolle DVD geben oder werdet Ihr dieses Mal ohne Kamera reisen?
TILO WOLFF: Nee, dieses Mal reisen wir ohne Kamera. Weil ich glaub, wenn wir jetzt wieder ne DVD raus bringen… Die Leute haben schon geschrien, dass es Kommerz wäre. Wir hatten ja die „Musikkurzfilme“ wo wir unsere ganzen Clips veröffentlich hatten und dann kam der Livefilm und da haben alle geschrien Kommerz, Kommerz, schon wieder ne DVD. Darum werden wir jetzt mal keinen Kommerz machen und ohne Kamera losziehen *lacht*
Es ist jetzt aber schon was anderes, ob ich jetzt ne DVD mit Videoclips hab oder ich habe wirklich so einen schönen Dokumentationsfilm. Ich habe das jetzt nicht unbedingt als Live-Video empfunden, sondern eher als Tourdoku.
TILO WOLFF: Absolut, so haben wir es auch gesehen. Aber wenn man sich halt mit den Inhalten nicht auseinander setzt und wenn man auf die Oberfläche guckt? Ich hab das auch nicht verstanden, warum sich die Leute geärgert haben und vor allem, wenn es einen nicht interessiert, dann braucht man es ja auch nicht zu kaufen, ist ja kein Thema eigentlich. Nee, also jetzt ist erstmal ne Pause angesagt und die Tour wird ohne Kamera laufen. Auch wenn es für mich jetzt extrem ungewohnt sein wird, weil ich es jetzt 1 ½ Jahre gewohnt war auf Tour ne Kamera im Nacken zu haben. Da kommt man sich jetzt wahrscheinlich sehr einsam vor *lacht* aber auch das muss mal wieder sein und dann schauen wir mal, wann wir das nächste Mal wieder mitfilmen werden.
Nächstes Jahr habt Ihr ja 20-jähriges Bandbestehen, gibt es da schon irgendwelche Pläne das Jubiläum gebührend zu feiern?
TILO WOLFF: Ich hab was vor, aber ich weiß noch nicht, ob ich das hinbekomme. Darum will ich noch nix großartig darüber erzählen.
Letztes Jahr habt Ihr Euch ja in Deutschland ein bisschen rar gemacht, allerdings habt Ihr auf dem Blackfield-Festival als Headliner gespielt. Wie hat Euch das Festival an sich und die Location gefallen?
TILO WOLFF: Also die Location fand ich Hammer. Die war großartig. Einziges Problem war, dadurch, dass es so offen ist stand bis kurz vor unserem Auftritt nicht fest, ob wir die Leinwand überhaupt aufziehen können, weil es so stark gewindet hat. Aber ansonsten fand ich die Location wirklich sehr sehr klasse und das Publikum hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es ist ja schon so, dass oftmals in Deutschland das Publikum eher ein bisschen verhalten ist. Wir sind viel in südlichen Gefilden getourt, wo die Leute halt die ganze Zeit rum springen. Da hatten wir schon ein bisschen unsere Bedenken, ob das jetzt so vielleicht ein bisschen langweilig wird, aber das war ganz das Gegenteil, also ich fand das Publikum war großartig und hat mir richtig Lust auf mehr gemacht. Und dem zu Folge werden wir auch dieses Jahr deutlich öfter in Deutschland spielen als ich das ursprünglich eigentlich mal vor gehabt hatte.
Könntest Du Dir vorstellen noch einmal im Amphi in Gelsenkirchen im Rahmen einer Tour aufzutreten und dann vielleicht auch wieder das Konzert mitzufilmen?
TILO WOLFF: Da habe ich noch nie drüber nachgedacht, aber das wäre durchaus ne Idee. Da müsste man wirklich mal drüber nachdenken, denn die Location würde sich ja wirklich anbieten, absolut. Also das wäre sowieso vielleicht auch etwas, da wir ja jetzt diesen Tourfilm gemacht hatten, wenn wir das nächste Mal mit Kamera im Anschlag auf die Bühne gehen, dann wahrscheinlich tatsächlich wirklich auch so, dass man dann sagt: wir machen ein Konzert und das filmen wir dann an einem Stück mit in einer schönen Location, damit es sich eben absetzt von dem was wir bis jetzt raus gebracht haben, wo man eben viele verschiedene Locations und Länder sieht. So dass man wirklich sagt, o. k. dieses Mal nicht ein Tourfilm sondern ein Konzertfilm von einem speziellen Konzert. Und da wäre natürlich so eine Location wirklich angebracht.
Arbeitest Du auch wieder an neuem Material für Dein zweites Projekt Snakeskin oder hast Du das erstmal auf Eis gelegt?
TILO WOLFF: Im Moment schläft es so zu sagen und so bald dann die Tour vorbei ist mit Lacrimosa werde ich wahrscheinlich das Projekt aus dem Dornröschenschlaf erwecken und dann geht es auch wieder weiter. Also es wird auf jeden Fall weitergehen, aber ich weiß noch nicht konkret wann, da habe ich noch gar keine Pläne.
Jetzt aber mal eine Frage ganz weg von Lacrimosa oder Snakeskin. Momentan ist ja wieder aufgrund des Amoklaufes eines Jugendlichen vor einigen Wochen in der Nähe von Stuttgart das Gespräch aufgekeimt, dass Kinder und Jugendliche durch gewaltverherrlichende Computerspiele und Musik beeinflusst werden, erstrangig kommt da halt mal wieder Gothic und Metal ins Visier der Anklage. Wie siehst Du das, in wie weit bist Du der Meinung, dass die Musik solche Taten von Jugendlichen wirklich beeinflusst?
TILO WOLFF: Puh, das ist echt schwer zu sagen. Also wir hatten anfangs über die Sehnsucht und die positiven und negativen Seiten davon gesprochen. Auch hier denke ich mal, gibt es zwei Seiten. Es gibt die Menschen die solche Musik für etwas Falsches benutzen um damit ein Defizit auszufüllen, wofür die Musik missbraucht wird. Für andere ist es genau umgekehrt. Vor zwei Nächten z. B. konnte ich nicht schlafen, hatte einen sehr nervigen Tag gehabt und war noch aufgewühlt und war auch gewissermaßen eine bisschen verärgert. Ich habe mir dann irgendwann ne Flasche Rotwein aufgemacht und mir Testament (US-Thrash Metal Band, Red.) aufgelegt damit ich mal wieder runter komme.
Für jemand anderen würde wahrscheinlich genau das Gegenteil passieren wenn er Testament hört, er würde vielleicht erst recht aggressiv werden bei dieser Musik. Oder sich gerade bei Songs wie „Killing Season“ oder so, angesprochen fühlen, dass er das jetzt umsetzen muss was er dort hört. Also es ist, denke ich mal, ganz subjektiv zu betrachten wie man mit der Musik umgeht und was man damit zum Ausdruck bringt oder wie man sich darin wiederfindet. Der eine will damit seine Gewaltbereitschaft oder eine gewisse Stärke, eine gewisse Brutalität nach außen ausstrahlen oder ist auch so labil, dass er das alles für bare Münze nimmt. Ich habe mich schon so oft mit Bands unterhalten, die so genannten satanistische Bands, die selber davon überhaupt nichts halten und das auch alles total lustig und lächerlich finden, aber die wissen, das kommt beim Gig gut an und darum machen sie das.
Was ich wahnsinnig, also unvorstellbar bescheuert finde, weil es gibt eben viele Kids die glauben das und ich war dann teilweise auf Konzerten von solchen Jungs und ich sehe dann das Publikum, die alle auf evil machen und rede hinter mit den Jungs der Band und die sagen, „ja ach guck mal heute waren wieder so und so viele da die haben wieder Teufelszeichen gemacht “und„ ja ja aber gestern waren es noch mehr, haha“. Das ist unglaublich wie viele Bands damit spielen und es bewusst darauf anlegen und es gibt eben auch viele Teenies die sind halt auf der Suche, die sind labil und wenn sie dann so was hören die denken nicht zweimal nach. Und da muss ich sagen, da gibt es schon gewisses Potential und auf der anderen Seite, wie gesagt, es liegt an jedem selbst und man kann den Menschen nicht bevormunden und man kann nicht sagen darüber darf man jetzt nicht mehr singen, solche Bands müssen verboten werden, weil es könnte labile Menschen dazu bringen, weil dann muss man bei Allem anfangen und dann findet man nie ein Ende. Es gibt in Russland eine Bewegung, dass Metal und Gothic verboten werden soll und dass das Tragen von Metalshirts in der Öffentlichkeit verboten werden soll.
Es ist Gott sei Dank nur im Parlament bisher noch nicht verabschiedet, aber es gibt also tatsächlich Überlegungen dahin gehend und jeder Amokläufer wird solche Überlegungen dahingehend beeinflussen, dass solche Gesetze irgendwann mal in Kraft treten. Der Punkt ist ganz wo anders anzusetzen. Man muss ja eigentlich die Ursache bekämpfen, warum missbrauchen Menschen gewisse Dinge zu solchen Taten. Da fand ich eigentlich dem Film „ Bowling for Columbine“ ganz geil, wo es um das Massaker an der Columbine High school ging, und es gibt einen ganz großen Moment in diesem Film in dem Michael Moore Marilyn Manson fragt, dass er immer in Verbindung gebracht wird mit diesen ganzen Amokläufern und dass die Marilyn Manson hören und du bist schuld, was sagst du denn dazu, was würdest du den Kids sagen.
Und da sagt Marilyn Manson, ich will den Kids gar nichts sagen, ich würde ihnen zuhören, denn das ist genau das Problem, niemand hört ihnen zu und deswegen sind sie so drauf. Und das ist genau der Punkt. Man müsste einen Weg finden wie man Jugendliche in dem Schulsystem, das existiert, so einbindet, dass sie sich bestätigt fühlen in allem was sie tun und nicht diesem enormen Erfolgsdruck, und da sind wir dann wieder bei dem Thema Gesellschaft, ausgeliefert sind aus dem sie definitiv nur wahnsinnig schwer heraus kommen können, weil auch halt einfach die emotionale Intelligenz teilweise in dem Alter noch fehlt.
Ja aber das ist wirklich das Problem unserer Gesellschaft, dass ja viele Eltern heutzutage um den Lebensstandard aufrecht erhalten zu können beide Elternteile arbeiten gehen müssen und die Kids kommen nach der Schule nach Hause und haben auch keinen mit dem sie sich austauschen können über Probleme oder sonstiges.
TILO WOLFF: Genau.
Womit wir dann aber auch bei der Wirtschaftskrise angelangt sind. Viele Firmen haben Kurzarbeit angemeldet, einige sogar schon Insolvenz. Wie weit wird sich das wohl auf die Verkaufszahlen von CDs, die ja eh schon rückläufig waren, noch weiter auswirken? Wird das dem Schwarzmarkt über Downloadplattformen noch mehr Zulauf bringen?
TILO WOLFF: Also ich denke schon, dass es auch hier stark spürbar werden wird, weil die Bereitschaft Geld für Musik auszugeben ist ja sowieso schon sehr gering und wenn die Zeiten härter werden, dann wird die Bereitschaft wahrscheinlich noch geringer. Das ist natürlich letztendlich ein weiterer Tropfen auf dass Fass, was nur für wenige zu erkennen ist. Wenn Musik nicht mehr gekauft wird, dann wird Musik auch nicht hergestellt, also produziert werden können, dann werden die Medien, die darum herum bestehen nicht mehr stattfinden.
Dann wird letztendlich die Kunstform Musik nur noch auf eine sehr minderwertige Ebene zurückgeschraubt werden müssen und letztendlich ist es der komplette Siegeszug für die konsumierbare Musik, die eigentlich nur noch eine Begleiterscheinung einer Kampagne ist. Im Prinzip ist es ja jetzt schon so, dass der Song oder das Album, wenn wir über die eigentliche Musikindustrie reden, keine Bedeutung mehr hat, es ist nur noch das Vehikel um Begleitprodukte damit verkaufen zu können. Dem zu Folge ist es um so wichtiger, dass gerade in Nischenbereichen wie Metal, Alternative und Gothic usw., dass hier nach wie vor gekauft wird. Kürzlich ist Gun geschlossen worden, ein Label nach dem anderen im Prinzip macht zu und Gun war ja jetzt nicht gerade das kleinste Label.
Ja gut, aber die gehörten ja als Sublabel zu Sony BMG und die sparen da dementsprechend an Randspartenmusik.
TILO WOLFF: Gut, das stimmt, aber ich weiß, dass es vor ein paar Jahren noch die Möglichkeit gegeben hätte Gun aus Sony herauszulösen, wenn es die finanziellen Möglichkeiten gegeben hätte, die jetzt eben aufgrund des zusammenbrechenden Musikmarktes nicht mehr gegeben sind, so dass das Label Gun für sich selber tatsächlich gar nicht mehr tragbar gewesen wäre und das ist natürlich wirklich eine wahnsinnig beängstigende Entwicklung und das wird natürlich auch so weitergehen und da muss man schauen, wohin sich das entwickelt. Aber besser macht es die Wirtschaftskrise letztendlich sicherlich nicht.
Wie versucht Ihr dagegen vorzugehen, dass z. B. Lacrimosa-CDs auf diesen Downloadportalen zu finden sind?
TILO WOLFF: Ja, dort wo man es löschen kann lassen wir es runter nehmen und wir versuchen halt einfach mit Qualität dagegen zu halten. Qualität einerseits als dass wir nach wie vor sehr aufwendig produzieren in der Hoffnung, dass der Konsument, der Hörer dann auch sagt, hey das ist möchte ich nicht als kleines MP3-File hören, sondern das möchte ich wirklich in aller Dynamik hören in der es auch produziert wurde und andererseits halt über das Artwork, dass bei uns immer eine wichtige Rolle gespielt hat und auch jetzt wieder, so dass wir das Album in zwei verschiedenen Artworks raus bringen.
Zum ersten Mal wird es eine vierfarbige Lacrimosa-CD geben, wobei es da nicht nur ein anderes Artwork gibt, sondern ich habe auch für fast alle Songs Alternativversionen aufgenommen, also teilweise andere Gitarrenriffs, anderer Gesang, hier und da etwas komplett neu geschrieben usw., so dass man also die Möglichkeit hat das Album aus zwei verschiedenen Richtungen anzugucken. Also einmal so wie ich es ursprünglich geschrieben hab mit dem traditionellen Schwarz-Weiss-Artwork mit einem dicken Booklet natürlich und dann aber auch noch mal mit dem Vierfarb-Artwork im Digipack mit den Alternativversionen.
Also muss man sich zwei CDs kaufen?
TILO WOLFF: Nee, man muss es nicht, weil es ist nicht so, dass es auf dem einen Album nur ein paar Songs gibt und auf der anderen CD dann andere Songs drauf sind. Es sind überall die gleichen Songs drauf. Wer jetzt sagt mir ist es egal ob schwarz-weiß oder farbiges Cover, oder die originalen Songversionen oder die anderen Versionen. Wer die Songs aus einer anderen Betrachtungsweise sehen will, der hat die Chance das Digipack zu kaufen und hat aber dann, wenn er die andere kauft nichts versäumt, weil er hat alle Songs. Wenn man sich für eine der beiden CDs entscheidet muss man auf nichts verzichten.
Welche Version wird es auf Vinyl geben?
TILO WOLFF: Das Vinyl orientiert sich an der normalen Version, an der originalen Jewelcase-Version.
So, nun komme ich zu meiner letzten Frage. Was wäre aus Dir geworden, wenn Du kein Musiker geworden wärst? Hattest Du als Kind auch mal einen anderen Berufstraum?
TILO WOLFF: Ich bin ein großer Filmfan und hätte wahrscheinlich versucht in der Filmbranche Fuß zu fassen. Ich weiß aber nicht, ob ich so glücklich dort geworden wäre. In jedem Fall wäre mein Leben deutlich unglücklicher und ich letztendlich unbefriedigter gewesen. Obwohl ich ja in die Musik nur zufällig gerutscht bin, das war gar nicht mein Berufswunsch, das war eigentlich ja nur mal ein Hobby und das hätte ich nie gedacht, dass ich das nach 20 Jahren immer noch machen würde. Man muss aber sagen, es ist ganz gut, dass ich da nicht für mich selber entschieden habe, sondern dass es sich so eigentlich entwickelt hat.
Weil ich weiß nicht, ob ich im Filmbusiness so wahnsinnig glücklich geworden wäre, weil ich diese Geduld die man aufbringen muss, um dort überhaupt kreativ tätig zu sein um dann nicht ewiger Kabelträger zu bleiben, aufgebracht hätte. Letztendlich auch große Regisseure die erfolgreiche Filme machen, haben es bis heute nicht geschafft sich zu emanzipieren und ihre eigenen Filme wirklich drehen zu können so wie sie es wollen. Also ich weiß nicht, ob mich das so glücklich gemacht hätte, weil ich doch diese Unabhängigkeit genieße, wenn ich jetzt was machen will, dann will ich es jetzt auch umsetzen.
Das ist die Mentalität die ich jetzt habe und brauche, von daher denke ich, hätte mein Leben auch eher in anderen sehr negativen Bahnen verlaufen können. Hetfield (James Hetfield, Sänger der Metal Band Metallica, Red.) hat mal gesagt, wenn er nicht Musiker geworden wäre, dann wäre er Massenmörder geworden. Ich glaub so schlimm wäre es in meinem Fall nicht gekommen, aber ich glaube mein Leben wäre nicht besonders gut verlaufen.
Also alles richtig gemacht?
TILO WOLFF: Ich glaub schon.
Dann bedanke ich mich herzlich bei Dir für das Interview und wünsche viel Erfolg mit „Sehnsucht“ und viel Spaß auf der kommenden Tour.
TILO WOLFF: Ich danke Dir auch.
2009, Obliveon.de, Susanne Soer
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