Seit jeher ranken sich um Schlangen zahllose Mythen und Legenden, und ebenso geheimnisumwoben präsentierte sich bislang auch das Projekt Snakeskin. Zwar sorgten die Tracks Melissa und I Am The Dark in den Clubs für einiges Aufsehen doch niemand konnte genau sagen, wer die Macher hinter diesen ungewöhnlichen Klängen sind. Mit Veröffentlichung des Albums Music For The Lost lüftet sich nun der letzte Schleier: Hinter Snakeskin verbirgt sich kein Geringerer als Tilo Wolff.
Nach 14 Jahren Lacrimosa verwirklichst du nun dein erstes Solo-Projekt. Seit wann trägst du dich mit diesem Gedanken?
TILO WOLFF: Eigentlich seit 14 Jahren, denn Lacrimosa ist keine Band im herkömmlichen Sinn, sondern im Prinzip die musikalische Umsetzung meiner Texte, und natürlich war von Anfang an offen, dass nicht alles zu Lacrimosa passen muss, sondern auch Platz für andere Projekte ist. Ich hatte immer schon vor, eine weitere Ebene zu suchen, nur hatte ich nie die Zeit.
War es wirklich bloß eine Zeitfrage?
TILO WOLFF: Im Prinzip ja, und wie bei einem guten Wein vielleicht auch eine gewisse Reifefrage. Plätte ich vor zehn Jahren so etwas angestrebt, hätte es sicher nicht die emotionale Tiefe gehabt, die Snakeskin jetzt bekommen hat, weil ich vielleicht nicht in der Lage gewesen wäre, neben Lacrimosa so tief schürfen zu können. Das heißt weder, dass Lacrimosa damals oberflächlich war, noch, dass es mir heutzutage unwichtig ist, aber man bekommt eine gewisse Gelassenheit, aus der heraus man Klarer sehen und sich auch tiefer “herunterhangeln” kann, weil man keine Angst hat, zu fallen.
Worin unterscheiden sich Snakeskin und Lacrimosa?
TILO WOLFF: Da gibt es keine Unterschiede. Es ist ziemlich genau derselbe Topf, aus dem ich greife, und zwar aus meiner Seele, meinen Gefühlen und meinen Emotionen. Nur stelle ich sie in ein anderes Licht. Um es ganz konkret am Beispiel der Texte zu zeigen – ich habe alle in Englisch geschrieben. Gut ich habe auch schon für Lacrimosa englische Texte geschrieben, aber noch nie konsequent ein komplettes Album. Die Texte sind im Booklet nur auszugsweise abgedruckt, und wenn man die Platte anhört, versteht man sie kaum. Das alles hat seinen Grund. Wenn wir zum Beispiel im Ausland mit Lacrimosa unterwegs sind, kommen immer wieder Leute zu uns, die sagen: “Ich kann kein Deutsch, abei das macht eigentlich nichts, denn die Musik drückt so viel aus, dass ich genau weiß, worüber du singst.” Und das macht Snakeskin aus – man versteht die Texte nicht, aber man fühlt, was zum Ausdruck gebracht wird. Gewisse Texte habe ich auch nicht niedergeschrieben, sondern nur eingesungen, um auf derselben Ebene wie das Publikum zu stehen, und ich weiß nicht, ob ich zum Beispiel in zenn Jahren noch weiß, was ich gesungen habe, denn verstehen kann auch ich nicht alles.
Welche Emotionen sind es, die du mit Snakeskin ausdrückst?
TILO WOLFF: Snakeskin würde ich musikalisch wie auch textlich als abgründig bezeichnen. Es legt, wie Lacrimosa auch, die Abgründe meiner Seele, dessen, was Ich erlebt habe, was mir begegnet ist in diesen wenigen Jahren, in denen ich über diese Erde gehen darf, auf und verarbeitet sie. Wenn ich also singe I Am The Dark, dann meine ich das hundertprozentig so. Nicht dass ich für alle Zeit und für immer das Dunkle, das abgrundtief Böse bin, aber in dem Moment, in dem ich das schreibe, in dem ich das singe, fühle ich es so.
Auch der Titel Music For The Lost spiegelt diese Abgründigkeit. An wen richtet sich deine Musik?
TILO WOLFF: In erster Linie wollte ich zum Ausdruck bringen, dass dies keine Kommerzscheibe ist. Es geht mir nicht um ein großes Publikum, ebenso wenig wie mit Lacrimosa. Ich weiß noch, dass ich die erste Platte fast nicht in die Läden bekommen habe und ein Jahr lang jeden Monat vier oder fünf Platten verkauft wurden. Das hat mich trotzdem nicht abgehalten, ein zweites Album aufzunehmen, sprich: Ich habe noch nie Musik gemacht, um reich und berühmt zu werden oder irgendwelche Mädels ins Bett zu bekommen, sondern für mich war Musik immer ein Zwang, eine Sucht. Und so ist Snakeskin auch zu sehen. Es ist Musik für Menschen, die Musik nötig haben, die verloren sind, die einsam und verlassen sind, die genau dieselben Abgründe in sich spüren, die in diesem Album dargelegt werden. Ich wurde oft gefragt: “Diese Gesänge sind superextrem, wer soll das hören?” Ich weiß natürlich, dass 99 Prozent der Menschen sagen werden, das ist keine Musik, das ist abartig. Aber es gibt diesen kleinen Prozentsatz, die “lost persons” sozusagen, die es genauso empfinden und die Musik so aufnehmen können, wie ich sie gemacht habe.
Gab es tatsächlich schon derart negative Resonanzen?
TILO WOLFF: Ja, klar. Als ich es meiner besten Freundin vorgespielt habe, flehte sie mich in der Mitte des zweiten Songs an, ich solle es ausmachen, weil sie kotzen muss. Während der gesamten Entstehungsphase von Snakeskin gab es keinen einzigen Menschen, dem das gefallen hat. Ich stand ziemlich allein auf weiter Flur, und erst als es an die DJs gegangen ist, bekam ich zum ersten Mal positives Feedback. Aber auch dort gibt es wieder eine Verbindung zu Lacrimosa. Als ich Angst aufgenommen habe, stand ich im Studio und konnte während des Singens sehen, wie sich die beiden Engineers in der Regie totgelacht haben über meine Musik, meine Texte und meine Art zu singen. Bei Snakeskin war es ähnlich, nur dass sie hier nicht gelacht, sondern gekotzt haben. (lacht)
Woher nimmst du die Kraft, ungeachtet solcher Reaktionen an deiner Musik festzuhalten?
TILO WOLFF: Da es hundertprozentig meine Persönlichkeit widerspiegelt, muss ich daran festhalten, sonst würde ich mich selber aufgeben. Das kann ich natürlich nicht, ich mag mich einigermaßen, und es ist wichtig, sich mit all seinen komischen Ticks, Emotionen und Gedanken akzeptieren zu können oder es zumindest zu versuchen. Wenn man zur Quelle kommen will, muss man gegen den Strom schwimmen, das war und ist immer mein Leitmotto gewesen. Man muss einfach das tun, was man für sich als richtig empfindet. Und wenn nur ein Mensch davon berührt wird, hat man eigentlich schon etwas Großartiges damit erreicht.
Haltest du dennoch Angst, mit Snakeskin die Lacrimosä-Fans zumindest zu irritieren?
TILO WOLFF: Ja. (lacht) Absolut. Aber das Risiko muss ich eingehen. Ich habe mir bei Lacrimosa nie Gedanken gemacht, was Fans zu einem neuen Album sagen, also darf ich mir bei Snakeskin diese Frage eigentlich auch nicht stellen. Aber ein bisschen Schiss habe ich schon. (lacht)
Wie äußert sich diese Angst?
TILO WOLFF: Ich trinke vielleicht ein Glas mehr als sonst. (lacht)
Gab es eventuell schon Rückmeldungen auf die in den Clubs gespielten Tracks, explizit von Lacrimosa-Fans?
TILO WOLFF: Bisher wurde es ja noch nicht öffentlich gemacht, dass ich hinter Snakeskin stecke, aber dadurch, dass die Adresse der Homepage bekannt wurde und man herausfand, dass sie vom selben Anbieter ist wie die Lacrimosa-Page, kursierten im Internet Gerüchte, Tilo Wolff könnte eventuell dahinter stocken, was sehr interessant ist. Einerseits gibt es Diskussionen von Electro-Fans, die Snakeskin klasse finden, sich aber jetzt, da ein Langhaariger dahinter Gecken könnte, fast dafür schämen, Snakeskin jemals gut gefunden zu haben. Dann gibt es Lacrimosa-Fans, die sagen: “Klasse, da kommt was von Tilo Wolff – aber es soll in Richtung Electro gehen und ist so hart und brutal…” Die Leute, die es gut finden sind enttäuscht, dass es von mir ist, und die, die wissen, dass es von mir ist, sind enttäuscht, weil es so brutal klingt. (lacht) Also, wie gesagt: Music for the lost!
Inwieweit war eigentlich Anne Nurmi in Snakeskin involviert?
TILO WOLFF: Anne ist ab einem gewissen Punkt extrem wichtig für Snakeskin geworden. Ich hatte einen Song geschrieben, bei dem ich dachte, er würde sich auch ganz gut für Lacrimosa machen, wenn ich ihn umarrangiere. Dann habe ich ihn ihr vorgespielt, und sie meinte: “Nein, mach das nicht, du hast hier einen eigenen Stil kreiert.” Gut, am Anfang hatte sie auch ein bisschen Probleme mit dem Gesang, aber nach dem zweiten oder dritten Mal Hören meinte sie, ich solle auf dem eingeschlagenen Weg bleiben. Es könnte sein, dass ich angefangen hätte, Snakeskin zu zerfleddern und das Album zum Beispiel erst in einem Jahr herauskommen würde, wenn sie das nicht gesagt hätte. Sie hat mich auf eine Art und Weise bestärkt, die auch bei Lacrimosa sehr wichtig für mich ist. Sie ist die Erste, der ich Sachen Vorspiele und frage: Macht es überhaupt Sinn, soll ich weitermachen, ist diese musikalische Ausdrucksform für dich nachvollziehbar? Und diesen Job hat sie zumindest ein Mal auch bei Snakeskin angenommen, darum ist sie bei dem Album zwar nicht musikalisch, aber im Booklet vertreten… Daraus könnte man eigentlich ein Quiz machen: Sie hat etwas für das Booklet gemacht, was man wahrscheinlich nicht herausfinden kann, wenn man es nicht weiß – aber man kann ja suchen, wenn man will. (lacht)
2004, orkus.de, Daniela Sickinger
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