Nachdem Tilo Wolff in unserer letzten Ausgabe schon etwas über die Entstehung des Werkes Live in Mexico City erzählt hat, kommen nur Themen wie Live-Alben im Allgemeinen und im Privaten, Bootlegs, Londonreisen, persönliche Empfindungen bei Songs, Unterschiede zwischen Mexiko und Mitteleuropa, Geheimnislüftung sowie die Zukunft von Lacrimosa zur Sprache…

Heutzutage wird ja in gewisser Weise jedes Konzert mitgeschnitten. Vom Zuschauer mit dem Handy. Wie empfindest du diese Tatsache?

TILO WOLFF: Das Problem ist einfach, dass diese Aufnahmen sehr individuell sind und den tatsächlichen Klang eines Konzertes nicht einfangen können. Je nach Qualität können die Handymikrophone meist nur gewisse Frequenzen aufzeichnen und kommen auch da schnell an ihre Grenzen. Wenn zum Beispiel eine Passage große Tiefenbässe um die 50 Hertz hat, verschwinden alle übrigen Frequenzen in der Handyaufnahme, und man hört nur noch ein Rauschen oder Brummen. Dafür stechen höhere Frequenzen unverhältnismäßig heraus. Ganz lustig wird es, wenn derjenige, der das Konzert mit seinem Handy aufnimmt, selbst mitsingt. Deswegen ist es in Zeiten, in denen so viele Konzerte via Handy im Netz landen, umso wichtiger, richtige Live-Alben zu machen, damit die Menschen hören, wie es in Wirklichkeit klingt.

Hast du früher oder auch in jüngerer Vergangenheit gerne Live-Alben von anderen Bands gekauft? Welches beeindruckte dich besonders?

TILO WOLFF: Ja, sehr gerne! Dabei gefallen mir die Live-Alben am besten, bei denen die Songs im Gegensatz zu den Studioaufnahmen variiert werden und eine gute Live-Atmosphäre zu hören und zu spüren ist. Ich liebe zum Beispiel die Live-Alben von Leonard Cohen oder von Archive. Ganz schlimm finde ich diese sterilen, perfekten Live-Alben, bei denen man nicht einmal das Publikum hören kann. Ganz schlimm!

In den Achtzigern und Neunzigern gab es ja auch zahlreiche Bootlegs. Warst du ebenfalls ein leidenschaftlicher Sammler?

TILO WOLFF: Ja, damals konnte man seine CDs ja noch nicht im Internet bestellen, sondern ist – wie zum Beispiel in meinem Fall – ein halbes Jahr arbeiten gegangen, mit dem Geld dann nach London geTilo Wolffflogen und hat dort die einschlägigen Plattenläden durchgewühlt nach neuen Bands und deren Scheiben. Dass da auch Bootlegs dabei waren, hat man erst schmerzlich zu Hause gemerkt, wenn man die Platten aufgelegt und den unterirdischen Sound gehört hatte. Das war dann doppelt bitter! Aber Bootlegs gibt es ja bis heute. Gerade vor zwei Tagen habe ich festgestellt, dass ein großer Onlineshop in der Schweiz Bootlegs von uns angeboten hat. Aber damit sich unser Publikum orientieren kann, haben wir vor einigen Jahren auf unserer Webseite die Rubrik „Titelkatalog“ eingeführt, in der man jeden Titel und das dazugehörige Album nachschauen kann und damit gleich weiß, welche CDs echt und welche gefälscht sind.

Juristisch waren Bootlegs illegal. Ethisch ebenfalls?

TILO WOLFF: Klar! Ihr fändet es wahrscheinlich auch nicht so witzig, wenn die Kioske anstatt euer jeden Monat neu und mit viel Aufwand erarbeiteten Originale meine billig zusammenkopierten Fälschungen einkaufen würden. Jeder, der arbeitet, weiß, dass der Diebstahl seiner Arbeit ethisch und moralisch verwerflich und persönlich verletzend und gesellschaftlich untergrabend ist! Das Problem ist nur, dass viele Arbeiten nicht zu stehlen sind und deshalb die Menschen, die diese – sozusagen – sichere Arbeit ausüben, sich keinen Kopf darüber machen, wie es denjenigen geht, die etwas kreieren und deren Arbeit damit geklaut werden kann.

Wann hast du zuletzt etwas getan, das nicht so ganz okay war? Und wie bist du danach damit umgegangen?

TILO WOLFF: Mit abnehmenden Werten in unserer Gesellschaft steigt leider die Unmoral. „Nicht ganz okay“ ist dabei genauso falsch wie „komplett daneben“. Es gibt keine kleine Sünden, Halbwahrheiten oder Notlügen. Gelogen ist gelogen, und Schönreden ist Selbstverarschung. Einzig das Motiv ist entscheidend. Lüge ich, weil ich mich selbst bereichern will – wobei ich das Bereichern hier nicht nur auf Finanzielles, sondern auch auf Zwischenmenschliches beziehen möchte, denn die Bereicherung an Lob und Anerkennung aufgrund falsch dargelegter Tatsachen ist erbärmlich – dann ist diese Lüge sicher schlimmer zu bewerten, als wenn ich lüge, um den Nächsten zu schützen. Daraus folgend mache ich – machen wir Menschen – jeden Tag Dinge, die zu bereuen wären. Wenn man sich also selbst ein bisschen reflektiert, damit einem der Blödsinn, den man anstellt, auch auffällt, dann hat man die Chance, daraus zu lernen und es nächstes Mal besser zu machen. Und das versuche ich… mit mittelmäßigem Erfolg.

Bist du ein guter Musiker?

TILO WOLFF: Das zu beurteilen, überlasse ich anderen, wobei zunächst die Frage geklärt werden musste: Wo beginnt „gut“?

Was war an dem Konzertabend in Mexiko alles gut?

TILO WOLFF: Mir hat die Stimmung im Publikum gefallen, die Band war wie immer tight und auf den Punkt, ich konnte meinen Gesang gut hören und mich deswegen komplett in die Musik fallen lassen. Ich fand es – persönlich betrachtet – gut.

Was fasziniert dich an Mexiko?

TILO WOLFF: In erster Linie das Publikum! Diese Fähigkeit, Begeisterung und Schmerz, die inneren Regungen, zu zeigen. Das ist einfach schön. Die Menschen denken dort weniger darüber nach, wie sie ankommen und auf ihr Gegenüber wirken. Sie tragen ihre Herzen in ihren Augen und auf ihren Zungen!

Was irritiert dich an Mexiko?

TILO WOLFF: Die Unpünktlichkeit und die Kriminalität.

Was ist in Mitteleuropa besser als in Mexiko?

TILO WOLFF: Die deutlich geringere Korruption!!

Und was in Mexiko ist besser als Mitteleuropa?

TILO WOLFF: Das Essen – zumindest teilweise, denn es gibt auch wunderbare Küchen in Mitteleuropa, wie zum Beispiel die weltweit komplett unterschätzte süddeutsche Küche! – und die Herzlichkeit der Menschen. Und das Wetter.

Bist du persönlich mit der Titelauswahl auf dem Werk glücklich?

TILO WOLFF: Klar, das ist eins zu eins die Setliste vom Konzert, und die habe ich ja für diese Tour zusammengestellt. Im Gegensatz zu den Konzerten in Deutschland haben wir im zweiten Teil der Tour übrigens auch Verloren vom aktuellen Album Revolution gespielt, das ebenfalls auf der Live-CD zu hören sein wird.

Welche zwei Songs bedeuteten dir an jenem Abend ganz besonders viel – und warum?

TILO WOLFF: Rote Sinfonie, weil ich den Gitarrenpart, den wir in der Live-Version spielen, magisch finde, und WeTilo Wolff Lacrimosa Ane Nurmi Live in Mexico City Revolutionil Du Hilfe brauchst, denn dieser Titel besteht alleine aus Gefühl, und das kommt live immer intensiver als im Studio. Das Gleiche betrifft auch Ohne Dich ist alles nichts, ein weiteres absolutes der Live-CD, das nicht unerwähnt bleiben darf!

Inwiefern wurde der Ton für das fertige Produkt nachbearbeitet?

TILO WOLFF: Der Ton respektive das Signal, also die musikalische Darbietung, wurde nicht nachbearbeitet. Das wäre wohl auch gar nicht so einfach möglich, da man über die sämtlichen Mikrophone auf der Bühne und im Publikum hört, was gerade gespielt und gesungen wird. Würde man da jetzt etwas verändern, bleibt das Original trotzdem auf den übrigen Mikrophonen zu hören. Das würde ziemlich schräg klingen. Nötig waren aber Säuberungen einiger Spuren, wenn es zum Beispiel während des Konzerts zu einer Überspannung auf einem Kanal kam, was dann zu Knacken oder Brummen auf der Spur führt. Das hatten wir leider ziemlich häufig, und da gab es auch einiges zu tun.

Erfüllst du dir mit dem Konzertalbum in gewisser Weise einen Traum?

TILO WOLFF: Auf jeden Fall! Eine schönere Manifestierung der Erinnerung an die vergangene Tour gibt es kaum!

Welches Geheimnis um Lacrimosa kannst du heute lüften?

TILO WOLFF: Ein gelüftetes Geheimnis ist ja bekanntlich kein Geheimnis mehr… aber hier wäre vielleicht eines: Wenn man alle Orchestermusiker, Chormitglieder, Live- und Studiomusiker zusammenzählt, die jemals bei Lacrimosa zu hören waren, kommt man auf 684 Musiker.

Was verrät uns (d)ein Blick in die Glaskugel bezüglich eines neuen Lacrimosa-Albums?

TILO WOLFF: Nächstes Jahr haben wir 25-jähriges Jubiläum. Das wird entsprechend gefeiert!

Mit was machst du dir selbst Mut, wenn mal etwas nicht so ganz rundläuft?

TILO WOLFF: Das kommt ganz darauf an, worum es geht. Aber im Allgemeinen ziehe ich meine Kraft aus meinem Glauben und all dem, was damit verbunden und was aus diesem bereits entstanden ist!

CREDITS

 07.08.2014, Orkus, Claus Müller

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