In der letzten Ausgabe hat uns Tilo Wolff bereits einen kleinen Einblick in die Arbeiten am ersten Lacrimosa-Film „Lichtjahre“ gewährt. Durch Deutschland, Polen, Belgien, Russland, Mexiko, Chile und China führe die Tournee zum Erfolgsalbum „Lichtgestalt“. Eine Reise, wie sie vielseitiger kaum hätte sein können und die nicht minder umfangreiche Erinnerungen mitbrachte. Um genau zu sein: 1000 Stunden Bildmaterial, das seit einigen Wochen in akribischer Feinarbeit gesichtet, bewertet und geschnitten wird.
Der sonst so agile Tilo Wolff klingt doch etwas erschöpft, als ich mich mit ihm einem weiteren Gespräch kurzschließe. Dabei musste doch langsam alles im Kasten sein, oder?
TILO WOLFF: Also, einiges haben wir schon noch zu tun Glücklicherweise muss ich mich aber nicht allein darum kümmern Für die Produktion habe ich eine Firma beauftragt, die mit mehreren Leuten den Film bearbeitet. Diese externen Mitarbeiter sind übrigens ganz wichtig. Denn ich möchte keinen Film, der zeigt, wie Lacrimosa sich selbst sehen, sondern wie Außenstehende die Band betrachten. Insofern ist mein Einfluss auf den Schnitt auch gar nicht so groß. Ich habe eigentlich nur die Chronologie vorgegeben. Das hat allerdings gravierende Konsequenzen. Denn wir zeigen ja ein Konzert von vielen verschiedenen Drehorten. Dabei muss allerdings die Reihenfolge der Songs gewahrt bleiben. Das bedeutet oft, viele alternative Sequenzen zu sichten. Da achte ich schon drauf, den ich möchte auf jeden Fall eine authentische Dokumentation haben.
Verwunderlich, dass Tilo auf einmal so viel von seiner Arbeit abgibt. Sonst hält er ja gern selbst alle Fäden in der Hand. Die Antwort auf die Frage, ob dies den ungewohnt war, kommt recht zögerlich:
TILO WOLFF: Ja… schon. Allerdings geht es ja nicht um einen musikalischen Kontext, sondern um der Inhalt eines Films. Da geht es um Szenen auf und hinter der Bühne. Und wenn ich das jetzt auswählen würde wäre das Zensur und würde das Gesamtergebnis verfälschen.
Stattdessen gewährt der Film auch private Einblicke hinter die Kulissen. Eine Seite, die Lacrimosa bisher lieber verborgen gehalten haben. Möchte die Band mit dem ausgeprägten Image etwa ihre Persönlichkeiten aufdecken?
TILO WOLFF: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Mein Privatleben bleibt natürlich privat. Mein Image habe ich mir aber nicht selbst gegeben. Das waren andere. Ich Möchte zwar jetzt nicht mit irgendetwas aufräumen – ich wüsste auch nicht, womit. Aber natürlich dichten einem die Menschen gern Dinge an, die mit meiner Person rein gar nichts zu tun haben. Es gibt zwei Möglichkeiten, an so ein Projekt heranzugehen: Du kannst es imagegerecht aufbereiten – dann ist es Propaganda, oder du machst eine Dokumentation und zeigst die Menschen so, wie sie sind. Und warum sollten unsere einen oder anderen ernüchtern, wenn er feststellt, dass ich gar nicht in einem Sarg schlafe… tja.
Andererseits wird uns auch oft Fake unterstellt. Und hier können wir definitive zeigen, dass dem nicht so ist. Außerdem, und das ist ganz wichtig, steckt in Lacrimosa ja unheimlich viel von meinen Gefühlen. Insofern wissen unsere Fans sehe viel von meiner Seelenlage. Allerdings wird das manchmal ganz falsch interpretiert. Dazu kommen noch Klischees zu äußeren, und fertig ist das völlig verzerrte Bild. Von daher ist es ganz gut, jetzt mal eine andere Perspektive anzubieten.
Was darf man sich darunter nun vorstellen? Gibt es vielleicht ein konkretes Beispiel?
TILO WOLFF: Allerdings, das gibt es”, wirft Tilo ein. “Unser Regisseur, der Lacrimosa vorher übrigens überhaupt nicht kannte, hat mir eine Szene gezeigt mit den Worten: “Hier sieht man, warum Lacrimosa so erfolgreich sind”. Da lief ich nach dem Soundcheck irgendwo über einen Parkplatz. Hinter einem Zaun stand ein Fan und winkte. Also bin ich hin, habe Hallo gesagt und ihm das gewünschte Autogramm gegeben. Der Regisseur fand die Szene ganz toll, weil ich in dem Moment unbeobachtet war. Ich persönlich fand das jetzt nicht so bahnbrechend. Toll, Tilo spaziert über einen Parkplatz. Aber genau diese Perspektive von außen ist es, die vorhin meinte.
Musikfilme dieser Art hat ja schon einige gegeben. Und nur die wenigsten waren wirklich erfolgreich. Erzählt “Lichtjahre” eine neue Geschichte?
TILO WOLFF: Ich hoffe. Eine weltumfassende Banddoku hat es jedenfalls noch nicht gegeben. Die Chronologie ist auch ein Novum. Wir erzählen nämlich eine komplette Tourgeschichte, angefangen beim Booking. Außerdem enthält der Film seine eigene Premiere. Die nehmen wir an Pfingsten beim WGT auf und bauen sie dann in die Story ein. Man sieht dann also quasi den Film im Film. Das gab’s, glaube ich, noch nie.
Ich bin ja ein großer Kinofan, und deshalb macht es mir besonderen Spaß, all diese Dinge mal auszuprobieren. Allerdings wollen wir die Zuschauer auch nicht mit Informationen überfrachten. Deshalb besteht aus der Rahmenhandlung. Ich denke, das Gleichgewicht haben wir bisher ganz gut hinbekommen. Insofern ist der Film eben auch für Leute interessant, die keine Fans von uns sing.
Wie bewältigt man eigentlich für so ein ambitioniertes Projekt die Technik? Das dürfte einen ziemlich hohen Aufwand bedeuten.
TILO WOLFF: Auf jeden Fall. Wir sind ja nicht mit ner DV-Kamera losgezogen und haben gesagt: “Halt mal drauf”. Wir hatten oft Kräne im Einsatz, mehrere Kameras, Ton-Mitschnitt auf 24 Spuren. Es wird also ein High-End-Produkt. Diese Qualität muss aber auch sein. Du kannst nicht in China Konzerte geben und dann einen billigen Mitschnitt liefern. Das passt nicht. Also, wenn schon fett, dann auch richtig. Hinzu kommt, dass es unsere erste Live-Aufnahme seit neun Jahren ist. Da müssen wir natürlich Standards setzen. Das gilt für beide Formate. Insofern gibt es auch die optionale Wahl auf 5.1.
Wobei ich sagen muss, dass die technischen Standards nicht oberste Priorität haben. Man darf ja nicht vergessen, dass viele Leute gar nicht die Möglichkeit haben, so was abzuspielen. Sprich, als erstes muss die Hifi-Qualität stimmen. Leider wird das nicht immer beherzigt.
Nun sind beide Formate ja recht üppig gefüllt. Die DVD wird rund drei Stunden umfassen, die CD enthält 23 Titel. Eine Menge, die durchaus ermüden könnte. Tilo ist da optimistisch:
TILO WOLFF: Wir haben das schon mund-gerecht aufbereitet. Ader mit drei Stunden ist es dann auch echt genug. Deshalb kann man wählen zwischen “Play all” und “Play music” – dann sieht man nur die Konzerteinstellungen. Das Gleiche funktioniert auch mit den Off-Stage-Szenen. Ich denke, so ist das alles durch-aus zumutbar.
Die gleichnamige CD ist nicht nur der Soundtrack zum Film, sonder auch das erste Livealbum seit neun Jahren. Wodurch unterscheiden sich die beiden Mitschnitte? Gibt es heute andere Schwerpunkte?
TILO WOLFF: Na ja, da liegen wie gesagt neun Jahre dazwischen. So lange existieren viele Bands gar nicht. Und wir haben uns in der Zeit ja entwickelt. Deshalb habe ich bewusst Stücke ausgewählt, die auch damals schon auf dem Livealbum drauf waren. Nimm nur ‘Tränen der Sehnsucht’. Die 98er-Liveversion war ganz anders als das Original. Heute klingt sie eher wieder wie die Urfassung, wenn auch etwas frischer. Die heutigen Live-Version sind nicht so brutal wie damals, und damit werden die Stücke unserem heutigen Stil auch gerechter. Wer das mal vergleicht, wird recht spannende Unterschiede entdecken.
Ein wesentliches Merkmal bei Lacrimosa ist das Artwork. Und so steht auch diese CD mit einem Gemälde wieder in der Tradition der Band. Den Titel soll ein Flügel auf einer leeren Bühne zieren. Die Geborgenheit und Emotionalität erschließen sich aus dem Kontext. Ein Blick auf den Rücktitel indes stellt wiederum dem Bezug Album ‚Lichtgestalt‘ her. Hier erwarten den Hörer der vertraute Harlekin – nur eben Backstage. Wie es scheint, haben Lacrimosa wieder einmal eine runde Sache abgeliefert.
2007, Zillo, Elmar Klemm
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