Bereits gut vier Jahre ist es her, dass Lacrimosa ein Studio-Album veröffentlicht haben. Doch das lange Warten hat nun ein Ende. Am 8.Mai erscheint endlich das brandneue Werk von Tilo Wolff und Anne Nurmi. Es nennt sich „Sehnsucht“ [ review ] und ist das mittlerweile 10. Studio-Album von Lacrimosa. Warum wir so lange auf dieses Schaffenswerk warten mussten, darüber und über viele andere Dinge sprach darkmoments-Redakteurin Lea Sommerhäuser am 17. April telefonisch mit Sänger Tilo. 

Am 8. Mai erscheint mit „Sehnsucht“ das 10. Studio-Album von Lacrimosa. Wie zufrieden bist du mit dem Ergebnis?

TILO WOLFF: Äußerst zufrieden. Ich bin ja in der glücklichen Lage, dass ich erst dann aus dem Studio gehen kann, wenn ich komplett zufrieden bin, weil ich keine Plattenfirma im Nacken sitzen habe, die irgendwann sagt „Jetzt ist Schluss. Jetzt musst du das Master abgeben!“. Ich kann also so lange produzieren, bis ich glücklich und zufrieden bin. Und das ist auch eigentlich der Grund, warum sich das Album ein bisschen verzögert hat. Ich wollte eigentlich schon ein bisschen früher damit an den Start gehen, aber ich habe eben so lange daran gearbeitet, bis ich glücklich und zufrieden war. Ich muss ja meinerseits mit dem Album leben. Und wenn ich zurück auf meine Alben schaue, die ich bereits alle gemacht habe, da bin ich sehr froh und auch sehr dankbar, dass ich mir noch meine ganzen alten Alben anhören kann und die mir immer noch durch Mark und Bein gehen. Das wäre ganz schlimm, wenn es anders wäre, mich also mit Kollegen unterhalten würde, die sagen „Oh Gott, das Album, was ich da vor 10 Jahren gemacht habe, finde ich heutzutage echt grausam!“. Ich bin froh, dass das bei uns nicht der Fall ist.

Tilo WolffDu hast bereits erwähnt, dass die Veröffentlichung des neuen Albums ein wenig länger gedauert hat. Liegt es vielleicht auch daran, dass ihr nach eurem letzten Album „Lichtgestalt“ erst mal lange getourt seid oder bist du einfach nur ein kleiner Perfektionist?

TILO WOLFF: (lacht) Im Prinzip beides. Es hat verschiedene Gründe: zunächst einmal die lange Tour, die wir nach „Lichtgestalt“ gemacht haben, und dann die lange Arbeit an der „Lichtjahre“-DVD. Wir hatten die Tour mitgefilmt und als wir dann nach der gesamten Tour zurück kamen, hatten wir über 1000 Stunden Filmmaterial, was gesichtet werden wollte. Das hat natürlich einiges an Arbeit und Energie gekostet. Gleichzeitig haben wir dann noch die Live-Scheibe gemacht, bei der wir auch noch die ganzen Aufnahmen Testhören und dann entsprechend auswählen mussten, welche Aufnahmen aus welcher Stadt und so weiter wir nehmen. Und als dann alles 2007 fertig und veröffentlicht war, habe ich Mitte des Jahres mein Studio umgebaut und dann ging es eigentlich auch direkt schon los. Also im Dezember 2007 habe ich mit den Aufnahmen zu „Sehnsucht“ angefangen und habe dann jetzt im Frühjahr, im März glaube ich, die Aufnahmen zum Album abgeschlossen. Ich habe also im Prinzip anderthalb Jahre daran gearbeitet, aber natürlich nicht jeden Tag, weil ich auch noch andere Projekte nebenbei mache. Aber so sind die vier Jahre relativ schnell rumgegangen, da eben noch sehr viel dazwischen lag.

Sind Cinema Bizarre eigentlich nach wie vor deine Schützlinge?

TILO WOLFF: Ja klar, logisch.

Wie findet man da überhaupt noch Zeit für sich, wenn man zusätzlich zur eigenen Band auch noch andere Projekt betreut?

TILO WOLFF: Ja, es ist schwierig, aber auch alles eine Frage des Zeitmanagements. Es gibt natürlich Momente, in denen man wirklich die ganzen Dinge, die zu bewältigen wären, gar nicht alle unter einen Hut bekommt. Aber im Großen und Ganzen will ich auch leben nebenbei und meine Tage nicht nur am Telefon und vor dem Rechner verbringen. Ich meine, ich mache das ganze ja, weil ich Spaß daran habe, und in dem Moment, wo es keinen Spaß mehr macht, muss man sich sowieso fragen, ob und warum man das überhaupt noch weitermachen sollte. Von daher muss man immer schauen, dass man irgendwo eine Waage zwischen Spaß und Opfer finden kann.

Ich habe gehört, dass der Titel zum neuen Lacrimosa-Album zunächst „Koma“ lauten sollte. Letztendlich seid ihr bei „Sehnsucht“ gelandet. Wie kommt´s?

TILO WOLFF: Naja, „Koma“ war mal so der erste Gedanke, weil das ein zentrales Stück auf dem Album ist. Zugunsten von „Sehnsucht“ hat es sich dann verändert, da ich kurz vor Ende einer Produktion immer anfange, mir Gedanken zu machen, wie dieses Album grafisch umgesetzt werden könnte, sprich wie das Cover aussehen soll. Und dabei lasse ich das gesamte Album eigentlich nochmals emotional Revue passieren und dabei ist mir aufgefallen, dass sich dieses neue Album eben sehr viel mit der Thematik „Sehnsucht“ auseinandersetzt. Jeder Titel beschreibt eine eigene Form der Sehnsucht, was allerdings so nicht geplant war. Es ist also kein Konzept-Album, sondern eher instinktiv oder intuitiv passiert und das ist mir relativ am Ende der Produktion aufgefallen. Und daraufhin habe ich kurzerhand den Titel gewechselt, was wiederum einer der Vorteile ist, wenn man selber entscheiden kann und einem keine Plattenfirma im Rücken sitzt. (lacht)

Wie passen denn ganz konkret Titel und Cover des neuen Albums zusammen?

TILO WOLFF: Da gibt es insofern die konkrete Verbindung, dass wir auf der Rückseite diesen Harlekin sehen, der im Prinzip mein Alter Ego ist. Ähnlich erstaunt wie er dort mit der Fackel in der Hand dasteht, so erstaunt stehe ich vor diesem Album, weil ich ganz ehrlich zugeben muss, als ich mit dem Album angefangen habe, hatte ich nicht erwartet, dass es so radikal und emotional wird. Und das Feuer, das man auf dem Cover sieht, ist im Prinzip ein Symbol der Sehnsucht. Feuer deswegen, weil die Sehnsucht eine große Quelle der Energie ist, in sich auch sehr schön ist, aber gleichzeitig auch sehr gefährlich sein kann. Wenn man sich der Sehnsucht willenlos hingibt, dann kann sie einen auch auffressen und verbrennen und man wird zum Sklaven der Sehnsucht. Aus dieser Sehnsucht letztlich heraus steigt dieses Pferd empor, das für mich einerseits die Schönheit eines Pferdes, nochmals die Schönheit der Sehnsucht, andererseits die Kraft und Energie, die ein Pferd in dieser Pose mit sich bringt, symbolisiert. Das Pferd ist natürlich ungesattelt, weil es ein wildes Pferd ist, das gezähmt werden muss, so wie auch die Sehnsucht gezähmt werden muss. Die Sehnsucht darf nicht den Reiter zähmen, sondern der Reiter muss die Sehnsucht, also das Pferd zähmen. Und das Pferd ist auch weiterhin als Sinnbild für die Freiheit zu verstehen. Man schwingt sich einfach auf das Pferd, um davon zu reiten und neue Welten zu erkunden, was letztendlich die Sehnsucht mit einem selber auch macht. Ohne die Sehnsucht würde man nicht in andere Dimensionen vorstoßen können. Und die Dame auf dem Pferd, die Reiterin, ist unsere alte Bekannte Elodia, die vor 10 Jahren gestorben ist.

Sie erscheint hier allerdings wieder, um einerseits zu zeigen, dass die Sehnsucht größer sein kann als der Tod, dass sie quasi die Mauern des Todes überwinden kann. Andererseits erscheint sie so, wie sie auch das erste Mal auf einem Lacrimosa-Cover erschienen ist, nämlich damals 1993 auf der „Satura“ – komplett nackt und bloß, ohne Hülle und ohne Verkleidung sozusagen, ohne Schutzschild und gleichermaßen auch ein bisschen surreal als Geisteswesen. Und sie tritt auch bewusst hier in Erscheinung, um diese Verbindung zu den ursprünglichen Lacrimosa-Alben wiederherzustellen, wobei ich bei dem neuen Album eben eine sehr starke Verbindung sehe zu der ursprünglichen Lacrimosa-Thematik.

Wonach sehnst du dich selbst manchmal am meisten?

TILO WOLFF: Das können verschiedene Sachen sein. Die Sehnsucht kann sich, wie das Album zeigt, in verschiedensten Weisen mit verschiedensten Gesichtern präsentieren. Es gibt natürlich eine Grundsehnsucht, die man, wenn man über dieses Wort redet, nicht außer Acht lassen darf. Das ist natürlich die Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Geborgenheit, zwischenmenschlicher Liebe, eine gewisse körperliche und sexuelle Sehnsucht, die wahrscheinlich jeden Menschen gewissermaßen begleitet. Allein hier sehen wir auch schon, wie gefährlich so eine Sehnsucht werden kann.Allein dieser Aspekt der Sehnsucht kann schon vernichtend sein. Es gibt viele Menschen, die von der Sehnsucht nach einer Liebe, nach einer speziellen Person vernichtet wurden. Es geht aber auch weiter.Ich habe natürlich auch noch andere Sehnsüchte in mir. Das kann durchaus auch mal die Sehnsucht nach Rache sein, wie auf dem Titel „Feuer“ zu hören ist. Das kann aber auch die Sehnsucht, zum Beispiel wie bei „Koma“ zu hören, nach Wahrhaftigkeit, nach einer Wachsamkeit in der eigenen Wahrnehmung sein. Es gibt so viele Sehnsüchte, und sei es die profane Sehnsucht nach einem guten Wein oder nach einem guten Essen.

Wo sind die Songtexte zum neuen Album entstanden?

TILO WOLFF: Das ist unterschiedlich. Ich setz mich selten hin und sag, ich schreibe jetzt einen Songtext, sondern ich schreibe oftmals meine Gedanken einfach auf.

Hast du eine Art Tagebuch, das du immer mit dir führst?

TILO WOLFF: Ja, so kann man sich das im Prinzip vorstellen. Das ist zwar kein geheftetes Büchlein sozusagen, sondern ich schmier überall drauf und wenn`s auch Tischdecken in irgendeiner Bar sind. Wann immer ich diesen Drang fühle, etwas aufschreiben zu müssen, dann versuche ich das auch ungefiltert zu tun.Und das kann in den unterschiedlichsten Momenten sein. „I Lost My Star In Krasnodar“ habe ich zum Beispiel in einem Hotelzimmer in St. Petersburg geschrieben, nachdem wir eben einige Tage in der besungenen Stadt verbracht hatten. Und dann kamen wir nach St. Petersburg und ich habe gemerkt, dass mein Körper zwar in St. Petersburg angekommen ist, ich mental aber noch in Krasdonar war. Ich habe dann dort im Hotelzimmer meine Gedanken aufgeschrieben. Der Song ist sozusagen mein persönliches Toursouvenir. Andere kaufen sich irgendwelche Postkarten und ich habe einen Song geschrieben (lacht), den ich dann mitnehmen konnte.

Ja gut, und andere Texte, zum Beispiel „Die Taube“, der Text ist in einer Situation entstanden, in der ich eigentlich relativ entspannt war. Ich würde den Text nicht als einen der extremsten oder am emotionalsten formulierten Texte, die ich bisher geschrieben habe, bezeichnen. Und trotzdem ist der Text in einer Situation entstanden, in der ich eigentlich relativ entspannt war. Auf jeden Fall gab es keinen direkten Auslöser für diesen Text. Solche Dinge finde ich immer sehr interessant, weil ich dort feststelle, dass im Unterbewusstsein immer sehr viele Dinge schlummern, die erst dann zum Ausdruck kommen, wenn man sich vermeintlich im Sicheren befindet.

Was ist denn bei dir ausschlaggebender Punkt dafür, welcher Song in Englisch und welcher auf Deutsch gesungen wird?

TILO WOLFF: Im Prinzip die Intuition. Ich arbeite in allem sehr intuitiv und wenn mir eine Textzeile automatisch in Englisch vor Augen steht, zum Bespiel bei „Call Me With The Voice Of Love“, da bin ich eigentlich mit dieser Melodie aufgewacht und bis ich dann in meinem Studio am Klavier saß, hatte ich diese Worte im Sinn. Und ich habe sie dann auch nicht hinterfragt und überlegt, ob ich die Sätze auf Deutsch schreibe, und wie es klänge, wenn ich sie übersetzen würde, sondern ich blieb dann bei dem ersten Gedanken und führte ihn einfach weiter aus. Meistens ist es eh so, dass das Unterbewusstsein viel eher weiß, was der richtige Weg ist, während das Bewusstsein noch 10.000 Fragen stellt, die sich das Bewusstsein in diesem Moment auch gar nicht selbst beantworten kann. Deshalb ist es eigentlich immer am besten auf die Intuition zu achten und zu hören.

Welches musikalische Element erachtest du in der Musik von Lacrimosa als besonders wertvoll und dürfte auf keinen Fall fehlen?

TILO WOLFF: Oh, (lacht) da habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken drüber gemacht. Ich experimentiere zwar viel mit Instrumenten, aber sagen wir mal so, es ist vielleicht nicht das eine Instrument, was nicht fehlen darf, sondern viel mehr darf die Kombination von Extremen nicht fehlen. Was mich immer fasziniert ist, wenn scheinbar unzusammengehörige Instrumente zusammengefügt werden. „Mandira Nabula“ ist zum Beispiel eine klassische Schlagzeug-Bass-Gitarren-Nummer, wird aber dann zum Songende hin ganz klar mehr und mehr vom Akkordeon dominiert. Eigentlich ist dieses Stück ein Dialog zwischen zwei Instrumenten, der Solo-Gitarre und dem Akkordeon, und am Ende gewinnt das Akkordeon mit seinem Thema.

Das sind eben Dinge, die bei Lacrimosa nicht fehlen dürfen, also sprich, dass sich Instrumente miteinander duellieren oder scheinbar nicht zusammengehörige Instrumente miteinander gepaart werden. Das fasziniert mich. Und was es letztendlich für Instrumente sind, ist dabei nebensächlich. Ich könnte mir auch durchaus vorstellen, mal ein gesamtes Album ohne Streicher zu machen oder ein gesamtes Album ohne Gitarren, obwohl beide Instrumente bisher immer sehr prägend für Lacrimosa waren. Aber es kann durchaus auch mal sein, dass die nicht mehr vorkommen. Aber was wir derzeit machen ist, dass Welten aufeinander prallen, dass es immer diesen Spannungspunkt zwischen zwei Polen gibt.

Du hattest vorhin bereits dein eigenes Label angesprochen, über das ihr die Platten von Lacrimosa veröffentlicht, und die Vorteile dafür aufgezählt. Wie schaut es mit Nachteilen aus?Gibt es da auch welche?

TILO WOLFF: (lacht) Ja klar! Es gibt massive Nachteile, vor allem in der Phase, in der ich mich momentan befinde. Ich spüre die Nachteile täglich, weil alle Entscheidungen von einem selbst getroffen werden müssen und alle Arbeit, die bei der Plattenfirma anfällt, mit dem Stab an Mitarbeitern, den man hat, selbst umgesetzt werden muss. Man ist also nicht in der Situation, nachdem das Album fertig ist, dass man sich zurücklegen und sagen kann, jetzt bin ich glücklich über das Album und warte mal, bis es rauskommt. Sondern die Zeit zwischen Produktion und Veröffentlichung ist im Prinzip die stressigste, weil dort die hauptsächliche Labelarbeit stattfindet und man dann von dem Künstlerischen komplett in eine andere

Welt geschmissen wird und man sozusagen vermarkten muss. Das ist natürlich einerseits ein Kulturschock, auf den ich hier und da gerne verzichten würde, und andererseits natürlich auch ein Arbeitsaufwand oder eine Konzentrationssache zu einem Zeitpunkt, an dem man wegen der Album-Produktion so ausgepowert ist und sich alles andere wünschen würde, als genau das zu tun. Es gibt da also schon ganz massive Nachteile. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich frag mich jedes Mal, ob die Nachteile nicht größer als die Vorteile sind. Und jedes Mal, bevor ich ein Album mache, bin ich am überlegen, ob ich es wirklich nochmals alleine mit „Hall Of Sermon“ durchziehen will oder nicht. Bisher hat meistens der künstlerische Anspruch gewonnen, deswegen mache ich das nach wie vor, aber es hat wie gesagt natürlich auch massive Nachteile nebst natürlich der wirtschaftlichen Situation.

Das gesamte Risiko haftet natürlich auf den eigenen Schultern. Wenn also ein Album floppt, dann kann man nicht sagen, ja Pech gehabt, dann unterschreibe ich eben beim nächsten Album bei einer anderen Plattenfirma und dann geht es wieder von Null los, sondern die Schulden hat man dann selber zu bezahlen.

Der Musikindustrie geht es dieser Tage ja auch nicht mehr besonders gut. Die ersten Plattenfirmen wie beispielsweiße GUN Records oder Dependent haben sich bereits aus dem Musik Cirkus verabschiedet. Wie betrachtest du die aktuelle Situation auf dem Markt?

TILO WOLFF: Ja, gerade dass eine Plattenfirma wie GUN zumachen musste zeigt doch, wie katastrophal die Situation momentan ist. Und das zeigt auch das, was ich schon seit Jahren gebetsmühlenartig predige, dass gerade im Alternative-Bereich die Menschen Platten kaufen müssen, weil der Alternative-Bereich der Bereich ist, der am gefährdetsten ist. Wenn man in einem Bereich arbeitet, in dem die Stückzahlen sowieso relativ gering sind und der letztendliche Gewinn, der mit einer Produktion eingefahren werden kann, nur ein Bruchteil dessen ist, was eine Major-Company mit einer Produktion einfahren kann, dann ist es umso wichtiger, dass das Publikum den Plattenfirmen und den Bands die Treue hält und kauft.

Wie man es an GUN sieht, gehen die Plattenfirmen zugrunde und damit sitzen die Bands auf der Straße und können keine Platten mehr machen. Letztendlich wird es dann kein Alternative mehr geben und dann können wir uns im Radio die Top 10 rauf und runter anhören und links und rechts daneben wird es einfach nichts mehr geben. Das ist eine ganz große Horrorvorstellung und ich hoffe nicht, dass es soweit kommt. Aber so wie es aussieht, sind wir grade auf dem besten Wege dorthin. Von daher ist es wirklich massiv wichtig, dass die Bands in Plattenfirmenqualität abliefern, was wir zum Beispiel auch immer mit unserem Artwork machen. Das neue Album wird ein 28-seitiges Booklet mit filigransten Designs und Fotos von verschiedenen Photosessions und so weiter haben. Wir versuchen auch immer etwas wirklich Wertvolles von der alten Schule zu geben. Wenn ich mir jetzt eine Platte kaufe, dann setze ich mich hin, schaue das Booklet durch und lese die Texte. Ich will das Album dann auch wirklich in der Hand halten. Es wäre schön, wenn das auch noch viele andere Menschen so wahrnehmen würden und nicht einfach nur die Songs auf ihren iPod laden und die Sache hat sich.

Wie würdest du den Satz „Musik ist…“ vollenden?

TILO WOLFF: Musik ist das Schönste, was die Menschen verlieren können und was sie zur Verfügung haben, ohne dass es greifbar und physisch ist. Es ist sozusagen das Schönste in der Welt, das nicht physisch ist.

Eure Alben enthalten immer die gleichen wiederkehrenden Elemente: ein schwarz-weiß Cover und ein einzelnes Wort als Titel. Hast du jemals darüber nachgedacht, diesen roten Faden einfach zu durchbrechen?

TILO WOLFF: Ganz früher mal beim dritten Album, also 1993, hatte ich kurzzeitig überlegt, das zu durchbrechen. Ich bin froh, dass ich es nicht gemacht habe, weil dieses Universum, das sich mittlerweile innerhalb dieser Zeichnungen aufgebaut hat, eine schöne eigene Welt ist, die ich sehr schätze und in der ich mich sehr wohl fühle. Hinzu kommt noch, dass ich Kontinuität liebe und es schön finde, wenn man anhand eines Plattencovers erkennen kann, was für eine Band das ist, aus welchem Stall sozusagen das Pferd kommt.

Gibt es eigentlich schon Tourpläne zum neuen Album?

TILO WOLFF: Ja, ziemlich konkrete. Die genauen Daten habe ich zwar noch nicht, aber es wird voraussichtlich so sein, dass wir im Juli in Brasilien beginnen und dann im Laufe des Julis durch Lateinamerika und im August durch Asien touren und dann im September voraussichtlich nach Deutschland kommen. In Spanien werden wir dann die Tour, glaube ich, am Schluss beenden. Nach momentaner Planung wird es sechs Konzerte in Deutschland geben.

Ihr seid dann nicht das erste Mal in Lateinamerika und Asien unterwegs. Gibt es irgendein Erlebnis, das dich in jenen Ländern besonders geprägt hat?

TILO WOLFF: Ach Gott, das waren ganz viele Erlebnisse, die einen massiv geprägt haben. Aber es sind wirklich die unterschiedlichsten Dinge, die man dort erlebt, weil man natürlich in ganz anderen Kulturen ist. Ich möchte allerdings mal ein paar herauspicken: In Asien hat mich eine Sache sehr fasziniert, als wir in Shanghai unterwegs waren. Also immer wenn man in einer Stadt ankommt, bekommt man für gewöhnlich jemanden zur Seite gestellt, eine Person, die sich um die ganzen Pressetermine und so weiter kümmert. Die Dame, die uns in Shanghai zur Seite gestellt wurde, höchstprofessionell, hat uns schon am Flughafen mit allen Zeitungen und Berichten begrüßt und uns dann zwei Tage von einem Interviewpartner zum nächsten gebracht und hat wirklich einen tollen Job geleistet. Und als wir dann am Ende der zwei Tage unser Konzert gestartet hatten und ich auf der Bühne stand, sah ich sie – und das hat mich sehr bewegt – in der ersten Reihe stehen, in Tränen aufgelöst und gestützt von einer Freundin. Sie hat das ganze Konzert über geweint. Am Ende des Konzertes bin ich dann auf sie zugegangen und habe gefragt warum und wieso und dann hat sie mir erzählt, dass sie die Gründerin des Lacrimosa-Fanclubs von China und seit Ewigkeiten ein großer Fan sei.

Sie wollte mir das allerdings nicht sagen, weil es die Zusammenarbeit hätte stören können. Das fand ich unglaublich. Also diese Zurückhaltung, diese unglaubliche Professionalität mir nicht einmal auch nur im Kleinsten zu zeigen, dass sie ein großer Fan ist und eigentlich das ganze hier nur macht, um ein Autogramm und ein Foto mit mir zu bekommen, das habe ich noch nie irgendwo auf der Welt erlebt. Das erste, womit die Menschen nämlich meistens ankommen, ist Fotos absahnen, Backstagepässe absahnen und dann „Ach ja, ich habe ja eigentlich auch noch etwas für dich zu tun“. Also das fand ich schon sehr bewegend. Und das ist sehr bezeichnend für das gesamte Verhalten des Publikums gewesen, das wir dort in Asien erlebt haben.

Auf der anderen Seite gibt es Erlebnisse aus Lateinamerika, wo es total umgekehrt ist. Auf der letzten Tour, erinnere ich mich, wollten Anne und ich einfach nur vom Hotel quer über die Straße in ein Restaurant gehen und unser Promoter hatte schon gesagt, das sei keine gute Idee und wollte sich erst einmal um Securities kümmern. Wir fanden das ein bisschen albern, sind aber dann in das Restaurant rübergegangen und das eine Problem war, dass es ganz große Fensterscheiben hatte. Im Nu standen Menschen an den Fensterscheiben und haben von außen fotografiert, wie wir da am Tisch saßen. Damit hatten wir zunächst einmal nicht gerechnet. Das nächste Problem war, dass sie dann natürlich alle ins Restaurant reinkamen und die Securities sich in dem Bereich, in dem wir saßen, aufbauen mussten. Sie haben dann niemanden mehr durchgelassen und Anne und ich saßen dann plötzlich völlig allein dort. Die Securities haben noch nicht mal mehr die Kellner durchgelassen, weil sie gesehen hatten, dass auch ein Kellner vorher nach einem Autogramm gefragt hatte. Wir saßen also dort in dem Restaurant und haben nichts zu essen bekommen (lacht), weil nicht mal mehr ein Kellner zu uns durchgelassen wurde. Daran sieht man mal die unterschiedlichen Reaktionen und Aktionen der Menschen auf den verschiedenen Erdteilen.

Anne NurmiWie schaut es eigentlich mit eurem Bekanntheitsgrad in Finnland aus, zumal Anne von dort stammt?

TILO WOLFF: Also einerseits haben wir ein großes Publikum in Ländern wie Russland oder Lateinamerika, was wahrscheinlich mit den emotionalen Kulturen zu tun hat. Andererseits ist wohl auch genau das der Grund, warum in Ländern wie Finnland, Schweden und Norwegen Lacrimosa so gut wie gar nicht stattfindet, weil man dort wohl offensichtlich diese große Emotionalität nicht hat. Eigentlich haben wir auch schon in Deutschland nicht so das megagroße Publikum, weil auch hier schon zu spüren ist, dass die Kultur eher ein bisschen kälter ist und man sich mit solch sehr emotionaler Musik schon schwer tut.

Und je weiter man in den Norden kommt, desto schwieriger wird es eigentlich und das Interessante dabei ist, dass Anne ja aus Finnland kommt und trotzdem Lacrimosa in Finnland eher weniger funktioniert. Aber ich finde das auch ganz spannend, weil es zeigt, dass Lacrimosa eben keine Trendmusik ist, sondern es eine kulturelle Herangehensweise an die Musik gibt und Trends da überhaupt keine Rolle spielen. Und das finde ich sehr spannend. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Lacrimosa im nächsten Jahr schon 20 Jahre alt wird.

Genau, es gibt ein großes Jubiläum zu feiern. Habt ihr dafür schon irgendwelche Pläne?

TILO WOLFF: Es gibt ein paar Ideen, ein paar Sachen, die ich gerne machen würde, aber ich weiß noch nicht, ob die so umsetzbar sind, wie ich mir das vorstelle. Was es auf jeden Fall nicht geben wird, ist ein großes Konzert, ein großes Happening. Das wäre unfair, denn wo soll es stattfinden? Wenn man es in Europa macht, dann schreien die Asiaten und die Südamerikaner. Wenn wir es irgendwo in Brasilien oder Mexiko machen würden, ja, dann schreit immer irgendjemand, zurecht natürlich. Und für uns ist das ganz schwierig, weil wir einen engen Bezug zu unserem Publikum auf den verschiedenen Teilen der Welt haben und wir niemandem etwas vorenthalten wollen. Wenn, dann wird sich dieses Feiern über eine Art von Veröffentlichung bemerkbar machen und nicht in der Art eines großen Happenings, an dem dann nur ein paar 1000 Leute teilnehmen können und der Rest der Welt hat keine Chance dazu.

Wie wirst du euer Jubiläum privat feiern?

TILO WOLFF: Oh, da habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Vielleicht werde ich mir irgendwann mal ein Wochenende freihalten, an dem ich mir all unsere Platten am Stück anhöre. (lacht)

CREDITS

 © Darkmoments.de  2009, Lea Sommerhäuser

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