Im Januar veröffentlicht Tilo Wolff alias Lacrimosa sein achtes Studioalbum. Es ist ein komplexes Werk voller orchestraler Eleganz. Lacrimosa verzichtet auf harte Attacken zugunsten eines klassisch-barocken Soundgemisches. Die 8 Stücke sind sehr getragen, fast traurig hingebungsvoll und mit emotionaler Schwere belegt. Erneut bestechend wie es Lacrimosa schafft, tiefste Emotionalität in mit Musik auszudrücken. Kompositatorische Eleganz wie bei der 12 minütigen Overtüre oder dem Requiem zum Ende des Albums wechseln mit sehr melodiösen (“Durch Nacht und Flut”) oder stark balladesken (“Apart”) Strukturen. Hinzu kommt eine dezent eingestreute pathetische Note (“ein Hauch von Menschlichkeit”). Auch der Dark Wave der ganz frühen Alben (“sacrifice”) kommt auf dem neuen Werk nicht zu kurz. Die rockige Seite lässt er in “Malina” erklingen. Ein großes Werk eines ganz besonderen Menschen. 

Lacrimosa Tilo Wolff Anne NurmiDu befindest dich momentan in einem dreitägigen Interview-Marathon. Ist es für dich eine lästige Pflichtaufgabe oder sehr wichtig um dein komplexes neues Werk zu beschreiben?

TILO WOLFF: Es ist wie viele Dinge im Leben, zunächst denkt man “so ‘ne Scheiße” und wenn man dabei ist denkt man “hey, das macht ja richtig Spaß”. Es gab bis jetzt hauptsächlich nette Gespräche und dann macht es richtig Spaß. Natürlich gab es auch schon derartige Marathons mit immer den gleichen Fragen, da denkt man “oh nicht schon wieder”.

Im Gegensatz zu früheren Singles lässt der Text von “durch Nacht und Flut” viel Platz für Interpretationen, ist dieses beabsichtigt?

TILO WOLFF: Auf jeden Fall, es ist eigentlich immer beabsichtigt und sollte eigentlich auch bei früheren Singles so gewesen sein. Natürlich gibt es Dinge, die ich konkreter zum Ausdruck gebracht habe. Im Großen und Ganzen ist es mir schon recht wichtig, Platz für Interpretationen zu lassen.

Wenn ich an “alles Lüge” oder “stolzes Herz” denke, fällt es einem sehr leicht, Zugang zum Text zu finden, dieses fällt bei durch Nacht und Flut” recht schwer?

TILO WOLFF: Das mag sein. Das liegt auch daran, dass es hier um ein Thema geht, was sehr viele Facetten hat und was mir auch sehr am Herzen liegt, respektive tief aus der Seele kommt. Da kann ich auch dann nicht mit klaren Worten ein Gefühl beschreiben, sondern ich taste mich langsam heran, genauso wie die Musik sich an Gefühle herantastet. Es gibt für mich nichts schlimmeres, als wenn man versucht seine Gefühle mit den Holzhammer einzutrichtern.

Auf welche persönliche Suche begibst du dich in dem Song?

TILO WOLFF: Es ist die Suche nach Wahrhaftigkeit, nach Werten. Wenn man eine Suche startet, muß man zunächst in sich eine Suche starten. Wieso und warum will ich mich auf eine Suche begeben, was hoffe ich zu finden? Erst dann kann man sich auf diese Suche machen. Wenn man planlos an die Sache rangeht, kann es fatale Folgen haben und nicht zum gewünschten Ziel führen. Diese Suche nach Werten, nach Wahrhaftigkeit, nach Beständigkeit und auch die Suche nach dem Kontakt zum eigenen Ich, der Persönlichkeit projeziert dann auch auf das Gegenüber. Weil man sein Gegenüber nur verstehen kann, wenn man sich selbst versteht.

Es besteht nicht immer die Möglichkeit zu finden, was man sucht. Ist daher die Textzeile “doch finde ich wirklich was ich suche” sehr wichtig?

TILO WOLFF: Auf jeden Fall, das ist auch Kern bzw. Fazit dieses Titels.

Der Titel des Albums besteht erneut nur aus einem Wort, wofür steht “Echos”.

TILO WOLFF: Das Wort steht für ziemlich viele Sachen. Zum einem steht es für die musikalische Reise, die auf diesem Album begangen wird. Dass wir halt mit Instrumenten und Stilrichtungen arbeiten, die zurück bis hin zum Barock gehen. Im Prinzip geht es zurück bis hin ins 16te Jahrhundert über die Klassik, die Romantik bis hin zur traditionellen Rockmusik. Von Instrumenten wie Melotron aus den 60ern, 70ern bis hin zu Loops, welche man nur aus der modernen Musik kennt.

Viele Echos aus der Vergangenheit verhallen nicht, sondern findet sich in diesem Werk wieder. Weiterhin auch die inhaltliche Struktur dieses Albums, in dem ich eine Reise beschreibe, in der man davon ausgeht, dass man ein Produkt seiner Vergangenheit ist, ein Produkt der Verhältnisse und der Kultur, in die man herein geboren wurde und all das zu einem Menschen gemacht hat, der heute Entscheidungen trifft und damit sein zukünftiges Leben wieder beeinflusst und verändert. Da sind es auch Dinge, die man heute sagt und die einem als Echo in der Zukunft entgegenschlagen. Wenn du vor die gleiche Entscheidung wie ich gestellt wirst, würden wir zu vollkommen unterschiedlichen Lösungen kommen, aufgrund des Backgrounds und die unterschiedliche Vergangenheit. Im Übrigen steht dieses “Echo” auch für die musikalische und inhaltliche Lacrimosa Vergangenheit. Alles was Lacrimoa bisher ausgemacht hat ist zu einem gewissen Teil auch auf diesem Album vertreten.

Im Vergleich zu früheren Alben sind allerdings brachialen Gitarren Parts nicht mehr vorhanden und werden allenfalls als Untermalung benutzt?

TILO WOLFF: Teilweise gibt es in “die Schreie sind verstummt” Passagen, die sehr heftig rüberkommen und an die jüngste Lacrimosa Vergangenheit erinnern. Im Großen und Ganzen ist das Album allerdings nicht so gitarrenlastig wie der Vorgänger.

Das Album ist sehr von der Klassik bestimmt. Wie wichtig ist hier das sprengen von Genre Grenzen?

TILO WOLFF: Ich sehe im Prinzip keine Grenzen. Ich denke musikalisch nicht in Schubladen. Ich sehe Musik als eine Form von Gefühlen und bei Gefühlen gibt’s auch keine Grenzen. Wenn ich in Schubladen denken würde und ein gewisses Gefühl zum Ausdruck bringen möchte, was allerdings mit diesem Musikstil nicht vereinbar ist, dann hätte ich nicht die Möglichkeit dieses Gefühl zum Ausdruuck zu bringen, das heißt, ich müsste mich als Persönlichkeit, der ich meine Gefühle in die Musik reinlege, eigentlich reduzieren, ich würde zu einem eindimensionalen Wesen werden. Und da ich das nicht kann und nicht will und auch kein Grund dafür sehe, sehe ich mich eher als Wanderer zwischen den einzelnen Stilrichtungen oder den Schubladen, die andere Leute auf- und zumachen.

Die Frage war so gemeint, dass diese Grenzen ja eigentlich vorhanden sind.

TILO WOLFF: Wer sagt, dass sie da sind. Unterhalt’ dich mal mit jemanden darüber, was Gothic ist. Da wird jeder eine andere Meinung vertreten. Für mich z.B. hat das, was man heute als Gothic Musik hört nichts mit Gothic zu tun. Nimm nur die ganze Elektronik, welche mit diesem Siegel verkauft wird. Früher hätte ein Metaller nie Lacrimosa gehört. Heutzutage hat sich dieses Bild gewandelt. Es ist sehr relativ, wo diese Grenzen gesteckt sind, natürlich gibt es Übergriffe und im Großen und Ganzen, weiß jeder, wovon man redet. Aber mittlerweile sind das eher fließende Grenzen und ich möchte diese Grenzen eigentlich gar nicht wahrnehmen und wenn ich sie durchbreche, merke ich es erst, wenn mir jemand sagt “Mensch Tilo, das kannst du so nicht machen, du kannst die Musikrichtung mit der Musikrichtung nicht verbinden”. Erst dann wird mir bewusst, inwieweit ich mich dort in Richtungen bewegt hab, die für jemand außenstehenden in verschiedene Schubladen gelegt sind.

Deine Fans kommen aus dem Gothic und Metall Bereich, kommt jetzt mit dem aktuellen Album der Klassik Fan hinzu?

TILO WOLFF: Im Prinzip war der eigentlich schon lange da. Es gibt sehr viele Menschen, die auf mich zugekommen sind und eigentlich mit moderner Musik und Gitarren überhaupt nichts anfangen können und die aufgrund von Lacrimosa Zugang zu dieser Musik gefunden haben. Die sagen, ich hab’ Lacrimosa gehört aufgrund der klassischen Elemente, fand das Klasse und habe dadurch einen Einblick in die Rockmusik bekommen und kann jetzt meine Kinder viel besser verstehen. Sowas ist natürlich schön und ich hoffe, dass das szeneübergreifend auch weiter so passiert, sprich dass sich Menschen aus verschiedenen Richtungen, verschiedenen Kulturen die Musik nicht wegen der Genres, sondern der Musik wegen anhören. Es für mich ganz wichtig, dass man es nicht nur hört, weil man Mitglied einer Szene ist, sondern ganz einfach, weil einen die Musik anspricht. Faszinierend ist es auch zu sehen, wenn man eben in andere Kulturen, die mit den europäischen Wertvorstellungen überhaupt nichts gemein haben, wie anders die Musik dort betrachtet und auch angesehen wird.

Im Bezug auf andere Kulturen, Ausland. Deine Texte sind sehr wichtig, wie funktioniert das bei Menschen, welche der deutschen Sprache nicht mächtig sind?

TILO WOLFF: Ein Mexikaner, der weder deutsch noch Englisch spricht, hat mal zu mir gesagt “Lacrimosa ist die einzige Band, die er hören kann, ohne die Texte verstehen zu müssen, weil die Musik alles zum Ausdruck bringt”. Das ist auch ein Punkt, den ich versuche zu erreichen. Ich versuche meinen Text in der Musik zu reflektieren. Natürlich bleibt der Text ganz wichtig, aber wenn man sich der Musik öffnet, dann ist es so, wie er beschreibt, dass man es erfühlen kann, auch wenn man nicht alles begreift. Wenn ich wüsste, warum gerade deutschsprachige Bands in den Ländern ein derart großes Publikum haben, würde es die Sache gewissermaßen entmystifizieren. Und so ist es ne schöne spannende Geschichte.

Dein aktuelles Album beginnt mit einer zwölfminütigen Overtüre. Das macht den Einstieg in das Werk nicht leicht. Wie denkst du darüber, auch mit dem kommerziellen Hintergrund?

TILO WOLFF: Absolut. Aber da kann oder will ich mir auch keine kommerziellen Gedanken machen. Natürlich freue ich mich, wenn die Platte sich gut verkauft, aber ich kann nicht aufgrund dieses Wunsches die Musik oder die Reihenfolge oder irgendetwas an Lacrimosa verändern. Ich wünsche und ich hoffe, bisher war es immer so, dass die Menschen mit der Musik so umgehen können, wie sie auf dem Album zu hören ist. Es gibt viele Menschen, ob es jetzt beteiligte Musiker, Menschen vom Betrieb oder auch von Zeitschriften usw. sind, die sagen das Gleiche wie du. Ich weiß auch, es ist ein absolutes Risiko, eine Platte so beginnen zu lassen.

Ich sehe dieses Album als ein Haus mit verschiedenen Gemäuern und dieses Intro ist wie die Eingangshalle und ich möchte, dass man nicht einfach durchrennt, sondern dass man sich bewusst wird, wo man jetzt hier zu Gast ist und dass man sich umschaut. Wir leben in einer Zeit, in der Dinge in einer unglaublichen Geschwindigkeit konsumiert werden, wo gar nicht mehr in die Tiefe gegangen wird, wo gar nicht mehr in die Tiefe gegangen werden kann, aufgrund der fehlenden Zeit und der Reizüberflutung. Und ich hoffe mit Lacrimosa, zumindest für den Ein oder Anderen, dem entgegen wirken zu können.

Ist dieser Beginn nur mit dem Hintergrund “Lacrimosa”, der eine große Bekanntheit besitzt möglich, oder könntest du dir vorstellen so etwas bei einen Debüt zu vollziehen?

TILO WOLFF: Gute Frage (längere Überlegungsphase). Ich glaube eher, dass es nicht möglich wäre, jedenfalls nicht in der Art und Weise.

Das Album ist unterteilt in drei Parts (Suche, Bittruf, Hingabe). Wie hängen diese Parts zusammen?

TILO WOLFF: Im Prinzip ist es so zu sehen, wenn ich davon ausgehe, dass man einen Menschen lieben kann, nur, wenn man sich ein Stück weit liebt, dass man sein Gegenüber nur verstehen kann, wenn man versucht, sich selbst zu verstehen. In dem Zusammenhang sind die Parts so zu verstehen, dass hier eine Suche stattfindet (Suche Part1), die Suche nach Werten und der Wahrhaftigkeit in einem selbst, im weiteren die Hingabe, dass man sich auch wirklich darauf einlässt. Z.B dass man nicht denkt, ich habe hier eine Seite in mir entdeckt, mit der kann ich überhaupt nicht umgehen, ich mach schnell wieder die Tür zu, sondern, dass man sich darauf einlässt und sich damit auseinandersetzt und sich dieser Sache auch hingibt. Der Bittruf bezieht sich darauf, diese Sache auch festhalten zu können, respektive der Bittruf, diese festhalten zu können. Die Hoffnung das Erlernte, das Erreichte nicht sofort wieder zu verlieren.

Kleines Beispiel, wir haben alle in der Schule mehrere Sprachen gelernt, wer kann heute noch so damit umgehen, wie zum Zeitpunkt, als er die Schule verlies. Dinge, die man schon mal präsent hatte und mit der Zeit verlernt hat, so ist es auch bei vielen Sachen, was das Leben oder einem Selbst anbelangt. Wenn man diese Entwicklung durchgemacht hat, dann kann man nach außen treten. Nach diesem Blick in sich hinein durch die drei Teile des Parts 1, kommt dann der Blick nach außen, wo genau dasselbe wieder durchgemacht wird. Allerdings baut man hier aus den Erkenntnissen auf, die man aus sich selbst heraus schon gewonnen hat. Aus dem Grunde folgt auf Suche Part 1 auch nicht direkt Suche Part 2, weil es hier um die Entwicklung geht, die man durchmacht, erst der Blick hinein und dann hinaus. Es geht hier nicht unbedingt um eine Person, sondern um Situationen, um Dinge, denen man sich ausgesetzt fühlt, die man nicht ändern kann und die Frage, wie man jetzt damit umgeht und wie man sich darauf einlässt, so sind diese Parts mit wenigen Worten zu verstehen.

Spiegelt die getragene Atmosphäre des Albums deine derzeitige Stimmungslage wieder?

TILO WOLFF: Im Prinzip schon. Es ist ja immer so, dass ich meine Gefühle in der Musik wiederspiegele. Lacrimosa ist hundertprozentig ein Teil von mir aber ich bin nicht hundertprozentig das, was Lacrimosa zum Ausdruck bringt. Es spiegelt also somit ein Teil meiner Persönlichkeit und meiner momentanen Gefühlslage wieder. Aber man ist ja nicht eindimensional und bei mir ist es fast immer der Schmerz, der einen treibt. Wens mir gut geht, gibt es keinen Grund, dass ich mich hinsetze und Songs schreibe. Das kann ich auf andere Art und Weise besser ausleben. Die schmerzvollen Gefühle kann ich halt am besten in dieser Kunstform (Text, Musik) ausleben.

Heißt das, wenn du positiver Stimmung bist, könntest du keinen Text schreiben?

TILO WOLFF:  Im Prinzip ja.

Also wird es nie einen positiven Lacrimosa Text geben?

TILO WOLFF: Sehr selten, es kommt vielleicht mal hin und wieder vor, dass die ein oder anderen Textzeilen positiv waren. Beginnend beim Sarkasmus bis hin zu einer gewissen Selbstironie, die ich für mich selber einbaue und die nicht unbedingt jeder nachvollziehen oder verstehen kann. Aber so einen wirklich ganz positiven Lacrimosa-Text, weiß ich nicht, ob es den jemals geben wird. Es hängt natürlich auch mit der Entwicklung zusammen, in wieweit man eben herangeht an einen Text bzw. sich selbst reflektiert und was einem dazu bringt, Musik zu machen. Vielleicht ändert sich das in ein paar Jahren, dass es genau umgekehrt ist und ich die positiven Gefühle in der Musik umsetze und die negativen in anderen Dingen auslebe. Im Moment kann ich es mir aber nicht vorstellen.

Braucht der Hörer die gleiche Gemütslage um das Album richtig zu verstehen?

TILO WOLFF: Glaube ich nicht. Ich kann, wenn es mir sehr gut geht, abgrundtief traurige Musik hören, genauso die selbe Musik hören, wenn es mir nicht so gut geht. Es liegt ja in einem verborgen, auch wenn es mir gut geht ist man empfänglich für gewisse Stimmungen, welche die Seele zum klingen bringen.

Das Album endet mit Requim für Gambe und Klavier, wie kamst du auf die Idee ein altes Instrument wie die Gambe auszugraben?

TILO WOLFF: Es ist ein Instrument, welches mich schon sehr lange fasziniert und mich bis jetzt noch nicht getraut hab’, dafür zu komponieren. Wenn ich komponiere, gibt es verschiedene Melodien, die schreien förmlich nach einen Instrument. Wann hört schon, wenn man eine Melodie schreibt, in welches Instrument man sie legen muß, in welchem diese Melodie wirklich zum Ausdruck kommt. Es gibt Melodien, die klingen in der Oboe wunderbar, wenn man sie auf Klavier hört nichtssagend. Hier war es umgekehrt. Es war zum ersten mal, daß ich ein Instrument in den Mittelpunkt gestellt habe und gesagt hab, ich möchte gern für dieses Instrument eine Melodie finden. Ich hatte das eher dann als Interlude gesehen und wollte nicht gerade einen ganzen Song dafür machen. Allerdings, während ich komponiert habe wurde ich mehr und mehr inspiriert und es hat Dinge in mir freigesetzt, dass sich dieser Titel (“Die Schreie sind verstummt”) mehr und mehr entwickelt hat und ich mich mit Gefühlen konfrontiert gesehen habe, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt, die aber auf meiner Seele lasteten und zum Ausdruck kommen wollten.

Ist es in etwa so wie mit der Trompete auf dem letzten Album?

TILO WOLFF: Die Trompete ist allgemein ein Instrument, welches mir sehr am Herzen liegt. Die Trompete ist auch das einzige Instrument, welches ich gelernt habe, nicht im klassischen, sondern ich habe Jazz gelernt. Ich hab mir immer gewünscht, auf eine Melodie zu kommen, die mich dann anspringt und ich sage, die Melodie passt perfekt zu einer Trompete. Zum ersten Mal war das der Fall bei “mein zweites Herz” auf dem “Stille” Album. Ich habe einen gegebenen Respekt vor diesem Instrument, weil ich gemerkt habe, wenn ich für Trompete schreibe, würde ich es auch gerne spielen. Allerdings hab ich auch immer gemerkt, die Dinge, welche ich für Trompete schrieb, kann ich wahrscheinlich gar nicht so spielen. Es ist ja so, ich wähle mir die Musiker so aus, das sie perfekt umsetzen können, was ich komponiert hab. Wenn ich etwas für ein Instrument komponiert habe, was ich eigentlich spielen kann, aber ich weiß es gibt Menschen, die werden es deutlich besser hinbekommen, dann muß ich in dem Fall hinten anstehen und mich sozusagen selber als Trompeter aus der Band schmeißen.

Wenn du die Songs schreibst und die Instrumente festgelegt hast, ist dann schon klar mit welchen Musikern du das umsetzt?

Tilo Wolff LacrimosaTILO WOLFF: Von vornherein nicht, sondern in dem Moment, wo der Song fertig ist, oder spätestens, wenn ich den Studioaufenthalt plane, setz’ ich mich hin und überlege dann, ob ich jemanden kenne, der dieses Instrument so beherrscht, dass es gut reinpasst oder ich fange an, rumzutelefonieren, ob es jemanden gibt, der es so spielen kann. Es gibt aber den ein oder anderen Schlagzeuger oder Gitarristen, den man schon während des Komponierens vor Augen, hat weil man ihn inzwischen so gut kennt, dass man weiß, der trifft jetzt genau den Ton, den ich hier zum Ausdruck bringen will.

Ich stelle mir das vor allem bei den klassischen Elementen schwierig vor. Die Leute spielen ansonsten Bach, Mozart usw. Ist es hier nicht besonders schwer passende Leute zu finden?

TILO WOLFF: Ja, denn es ist tatsächlich so, dass sich manche dem gar nicht so richtig öffnen können und das Ganze als Job sehen. Das möchte ich natürlich nicht. Ich möchte, dass man sich vorher unterhalten kann, dass man die Musik wirklich fühlen kann und sie mit Leben erfüllen kann. Ich möchte nicht vor einem Orchester stehen, welches nur auf die Uhr schaut und wartet, dass endlich Feierabend ist. Sowas kommt leider auch vor und ist dann eine sehr unbefriedigende Aufgabe, die dann entweder nochmal mit einem anderen Orchester gemacht werden muß oder man nochmal mit dem Intendanten ein paar Worte reden muß.

Ich kann mir vorstellen, dass die Geschichte auch finanziell nicht sehr einfach ist?

TILO WOLFF:  Im Prinzip muß man sagen, kommerziell gesehen ist es ein kompletter Wahnsinn. Ein Lacrimosa Album kostet sehr viel Geld und es ist verhältnismäßig zuviel Geld, wenn man es aufrechnen würde. Allerdings denk ich auch, Musik ist mein Leben und ich möchte Musik machen, die mich glücklich macht und auch in 10 Jahren noch glücklich macht. Wenn dem nicht so wär, würde ich nicht so unbefangen heute Musik schreiben können. Wenn ich mir meine alten Platten anhöre ist es auch sehr interessant, weil es Erinnerungen wachrüttelt, Erinnerungen an die Gefühlssituationen,daherb höre ich mir die Platten immer noch sehr gerne an, weil sie mir immer noch gut gefallen und weil sie weiterhin Bestandteil meiner Persönlichkeit und meines Seelenlebens sind. Es gibt natürlich die ein oder andere Stelle, wo man denkt, produktionstechnisch oder musikalisch hätte man es vielleicht besser machen können, aber für die Zeit in der ich es gemacht habe war es genau richtig und auch wenn ich die Chance hätte, möchte ich nicht einen Ton ändern an den alten Platten. Es ist ein wunderschönes Gefühl, eine Platte aufzulegen, die älter als 10 Jahre ist und sich an der Musik erfreuen zu können.

Auf der aktuellen Single ist ein Mix von Zeromancer, wie kam es zum Kontakt mit den Norwegern?

TILO WOLFF: Verschiedene Bands hatten ja bisher schon Lacrimosa Titel remixt, angefangen bei Samael über Secret Discovery usw. Wir hatten uns für diese Single überlegt, weil es ein sehr traditionell Rock (Schlagzeug, Bass, Gitarre) orientierter Song ist, wie so ein Song klingt, wenn er von einer Band mal bearbeitet wird, die aus einer ganz anderen Ecke kommen, der elektronischen, zwar der Gitarre nicht fremd sind und keinen EBM machen, aber doch eine ganz andere herangehensweise an die Musik haben. Ich finde es sehr spannend zu beobachten, wie gehen andere Leute an diese Musik ran, so sind wir explizit auf Zeromancer zugegangen und haben gefragt, ob sie Interesse hätten.

Mir ist klar, in der Herstellung ist ein Lacrimosa Album verhältnismäßig teuer, wie stehst du zu den momentanen CD Preisen, sind sie gerechtfertigt?

TILO WOLFF: Überhaupt nicht. Das Problem ist, als die CD damals eingeführt wurde, hat die Industrie den Preis künstlich nach oben gedrückt, weil ein besseres Klangerlebnis auch mehr Geld kosten sollte. Ich sehe die CD Preise mit diesem Hintergrund für nicht gerechtfertigt, auf der anderen Seite ist es so, dass man heute als Band oder Indie Label keine Revolution starten könnte, wir können überhaupt froh sein, als Indie Band in einer entsprechenden Form stattzufinden. Viele kleine Newcomer kommen überhaupt nicht mehr in den Handel rein, auch wenn sie sagen ihr könnt meine CDs auch billiger verkaufen. Das Problem ist, dass die “Großen” unter diesen Preisen nicht leiden, weil oftmals ein Klientel angesprochen wird (z.B. die neue Grönemeyer), was sowieso in einem Umfeld lebt, wo man schneller mal Geld für eine CD ausgibt. Die kleinen Bands oder Labels leiden sehr darunter weil sie ein Klientel ansprechen, bei dem das Geld nicht so locker sitzt.

Wie siehts mit der innerlichen Veränderung vom ersten Album bis hin zu “Echos” aus, äußerlich ist sie eher gering?

TILO WOLFF: Als ich begann Musik zu machen, hatte ich immer mehr Möglichkeiten mein Innerstes nach außen zu kehren, durch den Text, die Musik. In dem Zusammenhang wird mein optisches Erscheinungsbild immer unwichtiger. Ich bin natürlich eitel, aber es war nicht die einzige Oberfläche auf der ich mein Inneres sozusagen projezieren konnte.

Wie wichtig ist im Bezug auf Veränderung die Perfektion? Ich denke zurück an ganz frühe Auftritte. Du warst nicht immer sehr nüchtern auf der Bühne und es kam auch mal zu kleinen Textfehlern oder Strophenverwechslern?

TILO WOLFF: Die Perfektion ist für mich sehr wichtig geworden. Zu den ersten Auftritten muß man allerdings sagen, dass ich von vielen Dingen sehr überrascht war. Lacrimosa ist ja keine Band, die erstmal in Clubs getingelt hat und dann mal ‘ne Platte aufgenommen hat, sondern ich bin kurz nachdem die zweite Platte veröffentlicht war zum ersten Mal auf die Bühne und ich war überrascht, dass dort ein derart zahlreiches Publikum zugegen war, weil ich dachte, dass so zwanzig, dreißig Nasen da rumstehen. Ich bin dann auch frisch, fröhlich durchs Publikum gelaufen und war überrascht, dass sie plötzlich Autogramme von mir wollten, weil ich dachte, dass sie mich überhaupt nicht erkennen. Ich dachte damals, die kommen mal so zum Konzert, egal ob sie Lacrimosa kennen oder nicht und hören sich das mal so an.

Mein zweites Konzert war dann gleich beim Zillo vor 6000 Leuten. Ich war damals, das muß ich einfach zugeben, der Situation nicht gewachsen, mich da vor so vielen Leuten hinzustellen und Seelen Striptease zu machen. Ich hab dann des Öfteren, um meine Ängste zu überspielen, die ein oder andere Flasche angesetzt. In dem Moment, wo ich mich mehr damit auseinandersetzte und der Situation eher gewachsen war, ist mir dann auch aufgegangen, dass es viel mehr um die Musik als um meine Person auf der Bühne ging. Die Liveperfomance von Lacrimosa hat mehr und mehr an Eigenständigkeit gewonnen, weil wir Live eine vollkommen andere herangehensweise an die Songs haben.

Gab es damals die Gefahr, dass dir der Erfolg zu Kopf steigt und du damit nicht fertig wirst?

TILO WOLFF: Jein, ich bin eigentlich ein sehr bodenständiger Mensch was gewisse Dinge anbelangt, zumindest was so einen Hype anbelangt. Mir ist relativ schnell klar geworden, dass ich nichts anderes bin als die Leute, die zu meinen Konzerten kommen. Es geht ja schnell, dass man sagt, das ist ja toll und ich kann ja wirklich was und sich plötzlich so betrachtet, als wär man mehr als ein normaler Mensch. Dass ich dieses nachließ hat auch damit zu tun, dass ich eine gewisse Weltanschauung und ein gewissen Blickwinkel auf mich selber und meine Mitmenschen habe, die ein solches Denken gar nicht nicht möglich machen, allein von meinem Glauben her. Ich bin ein sehr gläubiger Mensch. Da steht das Wort Demut ganz oben und Hochmut ganz unten. Darum waren derartige Anflüge sehr schnell begraben und haben sich auch nicht mehr breit gemacht.

Gab es auch Menschen, die dich auf den Boden der Tatsachen zurückholten, evtl. aus der Familie?

TILO WOLFF: Eigentlich weniger. Die Familie war natürlich ein großer Rückhalt, besonders mein Bruder, aber ich kann mich nicht an irgendeine Schlüsselsituation erinnern. Ich würde das Ganze mehr auf meinen Glauben und was ich durch ihn vermittelt bekommen habe zurückführen.

Glaube ist ein sehr wichtiger Inhalt deines Lebens, trennst du deinen Glauben und die Institution Kirche?

TILO WOLFF: Jein, es gibt sicherlich gewisse Kirchen, die sollte man vom Glauben trennen. Ich sehe die Kirche als einen Weg, den Glauben praktizieren zu können und um dem lieben Gott näher zu kommen. Ich würde allerdings niemals sagen, dass jede Kirche diesen Zweck erfüllt.

Wie sieht für dich der liebe Gott aus?

TILO WOLFF: In erster Linie ist der liebe Gott, wie der Name schon sagt, Liebe. Wenn wir ein Abbild Gottes sind, ist die größte Kraft, die der Mensch empfinden kann, Liebe und das ist etwas sehr göttliches. Ich denk’, wenn man voller Liebe ist, dann ist man Gott am nächsten. Alles schöpferische, was im Menschen liegt, egal ob man Musik macht, etwas schreibt oder ob man im Leben in einer zwischenmenschlichen Beziehung schöpferisch agieren oder kreieren kann, alles was damit zu tun hat, ist für mich auch ein Teil Gottes. Ich stell mir Gott nicht als Person oder als Mann mit Bart vor. Gott ist Geist, ist Liebe und wir haben sehr viel göttliches in uns.

Betest du?

TILO WOLFF: Ja

Sind das persönliche Gespräche mit Gott oder Bitten (Hier wurde mir meine Frage selbst zu persönlich und ich wollte sie zurückstellen)?

TILO WOLFF: Ich kann sie ganz kurz beantworten, es ist zwar sehr persönlich, aber trotzdem ganz kurz. Es ist viel Dank, es ist viel bitten. Manchmal ist es auch einfach nur ein Gespräch, ein einfaches “mir von der Seele reden”. Ich bete auch vor jedem Auftritt und ich seh’ auch die Möglichkeit, derartige Musik machen zu können, als göttliches Geschenk, als göttliche Gnade und dafür danke ich auch.

Lacrimosa Tilo Wolff Anne NurmiObwohl du ein sehr gläubiger Mensch bist, spielt der Glaube in den Texten eher eine untergeordnete Rolle?

TILO WOLFF: Ich gehe jetzt nicht dahin und möchte der ganzen Welt von meinem Glauben erzählen. Es ist so, dass ich natürlich durchdrungen bin und viele Gedanken, die ich mir mache, finden ihre Begründung oder ihren Ursprung in dem Glauben, aber ich würde Lacrimosa auf gar keinem Fall als White Metal oder White Goth bezeichnen. Ich will nicht hinaus gehen und den Christen groß spielen.

Du hast deine Hauptfans im Gothic/ Metal Bereich, ist dieses im Bezug auf deinen Glauben ein Problem (Einige haben zum christlichen Glauben eher eine ablehnende Haltung)?

TILO WOLFF: Das ist für mich überhaupt kein Problem. Es gibt so viele Dinge im Leben, die schwer vereinbar scheinen. Für mich hat sich Gothic und mein Glaube nie ausgeschlossen. Ich habe oft in Gesprächen gemerkt, dass Menschen, die jetzt aus der Szene kommen und sich noch nicht besonders mit dem christlichen Glauben auseinandergesetzt haben, das durchaus interessant und faszinierend finden, wenn mal jemand in diese Richtung denkt oder auch offen darüber spricht, weil es in dieser Szene ansonsten eher satanische Bewegungen existent sind.

Die momentane Situation in Deutschland ist nicht berauschend, der Irak Krieg steht bevor. Wie sehr hilft dir hier der Glaube?

TILO WOLFF: Sehr, weil ich diese Welt und dieses Tun und Handeln der Menschen gar nicht für wahnsinnig ernst nehmen kann oder brauch’. Ich habe weder Angst vorm Tod, noch habe ich Angst, dass diese Welt untergeht. Natürlich mache ich mir sehr viele Sorgen, wie man auch auf Alben wie “Fassade” hören kann. Ich bin, das hat mit dem Glauben zu tun, kein Mensch, der jetzt wahnsinnige Zukunftsängste hat, weil im Prinzip Gewalt und Gegengewalt zu nichts führen kann. Wenn man die Menschheitsgeschichte betrachtet, ist unsere Kultur sowieso dem Untergang geweiht. Wir schauen oftmals zurück auf verschiedene alte Kulturen und sagen, die waren damals schon ziemlich weit, in manchen Sachen sogar weiter als wir sind und sind trotzdem untergegangen. Eines Tages wird man in den Geschichtsbüchern gucken und sagen, diese westliche Kultur, bzw. die Kultur der heutigen Jahre war interessant, hatte gute Ansätze aber es ist beachtlich, dass man nie auf die Bremse getreten hat, als man merkte, dass man dem Ende entgegen steuert. Ich glaube nicht, dass unsere jetzige Kultur eine Zukunft hat und ich glaube, was in der Bibel steht, dass die Welt ein Ende findet, welches nicht mehr all zu fern ist.

Wie wird das Ende aussehen?

TILO WOLFF: Im Prinzip so, wie es in der Bibel beschrieben wird, dass Jesus ein zweites mal auf die Erde zurückkommt und die Menschen, die Seelen einlädt, die sich abgewandt haben. Es ist ähnlich wie in einer Beziehung. Ein Pärchen, sie liebt ihn, aber er gibt ihr immer wieder einen Tritt und sagt, ich will dich in meinem Leben eigentlich nicht haben. Und irgendwann sagt sie, O.K., dann ziehe ich jetzt einen Schlussstrich, du gehst deine und ich meine Wege. Gott liebt die Menschen, es sind seine Geschöpfe, er hält im Moment noch die Hand auf und sagt, ihr könnt kommen, mein Herz ist offen und irgendwann gibt es eben diesen Tag, wo er die Hand zurückzieht. In diesem Moment wird der Mensch auf sich allein gestellt sein und diese Welt nicht mehr lange führen können.

Wäre es nicht möglich, dass Gott bereits jetzt eingreift und versucht den Mensch zu ändern?

TILO WOLFF: Er hat ihm ja den freien Willen gegeben und wenn er eingreifen würde, würde er in dem von ihm gegebenen freien Willen eingreifen.

Ist es dann nicht absoluter Blödsinn, wenn in der Bibel steht “macht euch die Erde untertan”?

TILO WOLFF: Das soll ja nicht heißen, dass wir Menschen die Erde ausbeuten sollen, sondern ihr habt einen Haufen Dinge von denen ihr profitieren könnt. Z.B. das Holz, damit kann man Wärme machen, damit kann man Möbel machen, darauf kann man etwas braten, heißt aber nicht zwängt Hühner solange in Legebatterien bis sie sich selber gegenseitig zerhacken, Hauptsache ihr bekommt so viele Eier raus wie möglich, um einen großen Umsatz zu machen.

Also denkst du, die Menschheit hat diesen Satz vollkommen falsch verstanden?

TILO WOLFF: Absolut.

Es gibt diese Interviews, die absolut Spaß machen, die Beiden mit Tilo gehören dazu. Er findet für jeden Topf einen Deckel und gehört vielleicht zu den ganz wenigen Menschen, die es vor 25 Jahren geschafft hätten, mir die Mengenlehre zu erklären. Nein mehr, er hätte es geschafft, dass ich meine gesamte Energie da rein gesteckt hätte. Ich danke aus ganzem Herzen für die offenherzige Beantwortung der nicht immer leichten Fragen und wünsche Tilo alles erdenklich Gute, egal mit welcher Macht.

CREDITS

 2003, amboss-mag.de 

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