Es gibt Gruppen, die die gegensätzlichsten Reaktionen auslösen. Denen selten Gleichgültigkeit entgegenschlägt, sondern die polarisieren. Die von den einen geliebt, von den anderen nahezu gehaßt werden. Eines der herausragendstens Vertreter dieser Art ist sicherlich Lacrimosa, deren besonderen Erfolg weder von der einen noch von der anderen Seite bestritten werden würde. Ende Januar 2003 ist für viele Fans das Warten endlich beendet mit dem Erscheinen des neuen Albums “Echos”. Anläßlich dieses mittlerweile achten Studiowerkes habe ich mich mit Tilo Wolff zur Gewinnung tiefergehender Einblicke in sein Schaffen unterhalten, angemessen zum Albumtitel angefangen mit einem kleinen Blick zurück… 

Das neue Album, “Echos”, scheint mir eher an “Elodia” als an “Fassade” anzuknüpfen, sowohl emional vom Themenschwerpunkt her als auch musikalisch. 

TILO WOLFF: Damit hast du nicht ganz unrecht. “Fassade” ist für Lacrimosa erst einmal ein ungewöhnliches Album dahingehend, daß ich dort ein Thema angefaßt hab, was im Prinzip zunächst einmal Lacrimosa-untypisch ist. Normalerweise schreibe ich nicht über gesellschaftspolitische Themen. Das passiert hin und wieder mal, was heißt passiert, das mache ich hin und wieder ganz gerne, wenn mir wirklich etwas auf der Seele lastet, wie damals auf der “Satura” “Das Schweigen”.

Im großen und ganzen ein ganzes Album unter ein Thema zu stellen, was mehr mit der Gesellschaft zu tun hat als konkret mit mir, ist relativ ungewöhnlich. Es brannte mir auf der Seele und ich mußte es machen. Wenn ich es damals nicht gemacht hätte, hätte ich es jetzt gemacht, wahrscheinlich. Genauso auch musikalisch. Ich hab seit Jahren diesen Traum für mich gültig eine perfekte Kombination aus Gitarrenmusik, weitläufig, und Orchestermusik zu machen. Für mich persönlich ist dieses Ziel damit erreicht, mit dem Album “Fassade”. Das ist natürlich nicht allgemeingültig und heißt nicht, daß es für andere auch so sein muß, aber dieses Ziel oder diesen Traum habe ich damit abgehakt.

War es also quasi eher ein Schritt zur Seite im Vergleich zu anderen Alben, die doch mehr auf der Linie einer Entwicklung lagen? Fassade schien mir mehr wie ein eigenständiges Album zu sein. 

TILO WOLFF: Ein bißchen war es auch so, ja. Ich hatte zwar diesen Traum, diesen musikalischen Traum zwar auch schon auf “Inferno”, auf “Stille” und auch auf “Elodia”, aber nicht so ganz in den Vordergrund gerückt, weil ich ja doch eher aus dem Herz arbeite. Also das heißt nicht mich hinsetze und jetzt konkret mir musikalische Vorstellungen mach, sondern ich schreib, was mich bewegt. Man kann “Fassade” schon ein ganz bißchen als Nebenakt sehen.

Ich würde mal so sagen, es baut zwar auf “Elodia” auf, es ist für mich die konsequente Weiterentwicklung, weil ein Thema wie “Elodia” sich eigentlich auch nur für mich in einem Thema wie “Fassade” finden kann, aber man könnte auch einen gewissen Trampelpfad benutzen, indem man eine direkte Verbindung zwischen “Elodia” und “Echos” aufbaut. Sagen wir mal so, wenn man sich bisher die Alben chronologisch angehört hatte, konnte man kein Album überspringen, weil da was gefehlt hätte. Bei “Fassade” ist das unter gewissen Umständen möglich.

Genau das war mein Eindruck, daß “Fassade” nicht notwendig in diese Kette zu passen schien, sondern daß es eigentlich eher genauso jetzt hätte nach “Echos” kommen können oder daneben stehen könnte, nicht unbedingt ein Nebenprojekt, sondern ein Schritt zur Seite. Aber du meintest trotzdem, daß du es dringend hättest machen müssen? 

TILO WOLFF: In jedem Fall, ja. In dem Moment, wo es meine Seele belastet, wo es schreit und heraus will, kann ich es nicht im Zaum halten, da wäre es herausgebrochen.

Gab es da einen besonderen Anlaß für? 

TILO WOLFF: Einen konkreten Anlaß… Ich weiß gar nicht mehr, welcher Tropfen das Faß zum Überlaufen gebracht hat. Irgendwann konnte ich das schweigende Zuschauen nicht mehr aushalten und ich mußte den Mund aufmachen. Auch wenn ich weiß, daß dieses Album die Welt nicht verändern wird, das wußte ich vorher, das wußte ich im Nachhinein. Das wollte ich unter anderem, einer der vielen Aspekte dieses Layoutes dieser CD, daß mit der Fortführung des Covers auf den Rücken der CD man den Clown als stillen Betrachter sieht. So seh ich mich selber auch in Bezug auf dieses Album. Ich schau dieser Szenerie zu, ich werf dieses Blick auf die Gesellschaft – in Form des Covers wirft der Clown den Blick auf diese Modeschau. Ob er nun dasteht oder nicht, es wird nichts verändern, diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Ob er nun darüber erzählt oder nicht, ob er zuschaut oder nicht, ist im Prinzip für das Geschehnis nebensächlich. Aber in dem Moment, wo er zuschaut hat – und er schaut zu, weil er dort steht – muß er drüber reden, um seiner Seele zumindest Luft zu machen…

Also ein Statement, nicht der Veränderung willen, sondern um sich selbst auszudrücken… 

TILO WOLFF: Genau, ja.

Hast du ein früheres Album von dir angehört um “Echos” zu schreiben? Oder eher vermehrt klassische Musik, deren Einfluß man ja besonders auf dem neuen Album hört? 

Lacrimosa Tilo Wolff Anne Nurmi Echos TILO WOLFF: Im Prinzip muß man sagen, Einfluß der Orchestermusik, von der Rennaissance über den Barock über Klassik bis hin zur Romantik, weil eigentlich aus all diesen Epochen orchestraler Musik Einflüße gezogen sind. Ich hab nicht vermehrt Orchestermusik gehört. Orchestermusik begleitet mich seit sehr langer Zeit schon, war ja auch damals sozusagen Vater des Namens für Lacrimosa, was ja inspiriert ist aus einem Requiem, jetzt ganz konkret dem Requiem von Mozart. Es ist vielmehr, daß ich ganz entspannt das Album geschrieben hatte. Entspannt dahingehend, daß ich keine Ziele hatte. Ich wollte weder “Fassade” noch die vorhergehenden Alben toppen auf irgendeine Art und Weise.

Ich wollte weder jetzt konkret ein Konzept beleuchten – daß es auch wieder ein Konzept gibt, ist mir erst im Studio eigentlich aufgefallen, daß kann ich nachher noch genau erklären – sondern ich hab meine Gefühle ganz unkatalysiert zum Ausdruck gebracht und mir ist eigentlich erst aufgefallen als ich den Studioaufenthalt geplant habe und die ganzen Orchester buchen mußte, wie viel Orchestermusik ich geschrieben hab. Ich war lange Zeit der Meinung während des Komponierens, daß ich gar nicht so viel Orchestermusik benutzt oder gar nicht so viel für Orchesterinstrumente geschrieben hätte.

Mir ist eigentlich erst dann aufgefallen, wie sehr mir das inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist und daß ich ohne in diesem sozusagen Einkaufsladen oder wie ein kleines Kind, was im Spielwarenladen ist und überall nach den verschiedenen Instrumenten greifen kann, daß ich ohne das im Moment gar nicht wirklich leben oder arbeiten kann. Es kann gut sein, daß ich eines Tages ein Album mach ganz ohne Orchester, aber im Moment war ich selber überrascht, wie orchestral das Album im ganzen geworden ist.

Wie gehts du an das Schreiben eines neuen Stückes heran? Komponierst du klassisch, beschriftest du Notenblätter für jedes einzelne Instrument sogar, oder behälst du, als anderes Extrem, nur Tonfolgen im Ohr und spielst dies anderen Musikern vor? 

TILO WOLFF: Ne, es ist so, es beginnt eigentlich alles mit dem Text. Sprich, auch Lacrimosa hat nur mit Texten begonnen. Lang bevor es Lacrimosa gab hab ich schon meine Gedanken in Texte oder auch in Kurzgeschichten aufgeschrieben. Im Prinzip war die erste Ausdrucksform für mich das reine Benutzen von Wörtern. Bis ich irgendwann das Gefühl hatte, es reicht nicht mehr aus, ich möchte dem noch eine weitere Dimension dazu verleihen. Und so ist es eigentlich bis heute geblieben, daß ich Texte schreib. 80 % der Texte sind einfach sozusagen nur für mich, leg ich ab, vieles davon ist eigentlich gar nicht ablegenswert, ich leg es trotzdem ab, ist immer interessant, das Jahre später zu lesen.

Aber wenn da ein Text mich besonders bewegt oder ich das Gefühl, das Text dem Kern dessen, was ich zum Ausdruck bringen möchte, nahe gekommen zu sein, dann setze ich mich entweder ans Klavier oder an ein Keyboard, gekoppelt an einen Computer-Sequenzer, und beginn durch den Text inspiriert zu komponieren. Sprich, ich versuch die Gefühle, die ich im Text zum Ausdruck gebracht habe, in die Musik einfließen zu lassen. Man kann es eigentlich so sehen, als ob der Text Noten für mich wären, ich fange an zu spielen. Das ist die eine Möglichkeit wie ich komponiere. Es gibt die Möglichkeit, daß ich eine konkrete Melodie im Kopf hab und ich dann, während ich komponiere, einen Text gleichzeitig schreib und das Textschreiben eigentlich ein Bestandteil des Kompositionsprozesses ist.

Darüberhinaus ist es so wenn ich komponier, daß ich eigentlich auch im gleichen Moment arrangier. In dem Moment, wo zwei Minuten von einem Song vielleicht schon komponiert sind, dann sind die auch bis ins letzte Detail ausarrangiert, aber es kann schon sein, daß die letzten oder die restlichen fünf Minuten vielleicht noch komplett fehlen. Ich laß mich so auch durch die verschiedenen Dinge auch inspirieren. Das heißt, wenn ich am komponieren bin und mir gehts eigentlich hier um eine baseline und es fügt sich dazu eine Hornmelodie, daß diese Melodie später, wenn ich die dann aufgreif in einer Gitarre oder einer Flöte, und so versuch, eigentlich auch immer wieder eine gewisse Art von Dialog zwischen den einzelnen Instrumenten und der Musik zu führen, wie das ja eigentlich auch so ist, wenn man seine Gefühle fließen läßt, daß man dann ja immer so verschiedene Eckpfeiler hat, an denen man festhält, sei es nun, daß die geprägt sind durch das eigene Denken, durch den eigenen Charakter, das eigene Seelenleben oder die Situation vorgegeben.

So entwickelt sich die Musik und in dem Moment, wo ich ins Studio geh, muß alles in Stein gemeißelt sein sozusagen, das heißt, alle Noten, alle Partituren müssen geschrieben sein und im Studio verändert sich nicht mehr wahnsinnig viel, weil genau dann, was ich eben erklärt hab, würden dann nicht mehr funktionieren. Wenn ich jetzt da zum Beispiel diese line im Horn habe und der Gitarist, der die line übernimmt, sagt jetzt “hey Tilo, ich hab hier ein viel besseres Solo”, dann mag das stimmen, vielleicht hat er wirklich ein besseres Solo, aber das würde nicht mehr in den Song passen, darum kann sich da nicht mehr viel ändern.

Das hatte ich mich schon gefragt, wie stark die Einflüsse Dritter auf dein Werk sind, insbesondere die von Gastmusikern. Ob du auch Passagen von Instrumenten, die du nicht beherrschst, schreibst oder du anderen hier eher freien Lauf läßt.

TILO WOLFF: Nein, das ist alles ausgeschrieben. Das würde auch zu einem heillosen Desaster führen, wenn man vor einem Orchester mit 70 Mann tritt und sagt: “Ich habe hier eine konkrete Idee, aber spielt einfach mal drauf los”. Das ginge nicht.

Wie suchst du die Studiomusiker, die Lacrimosa untersützen sollen, aus? Gibt es hier irgendwelche Kriterien, die vielleicht von einem Album abhängen oder gar von einem einzelnen Stück? 

Lacrimosa Tilo Wolff Anne Nurmi Echos TILO WOLFF: Die hängen von den Stücken ab. In dem Moment, wo ich einen Song komponier oder spätestens wenn er fertig ist, ist eigentlich klar, wen ich dann dafür einlad. Daß ich zum Beispiel für einen Titel wie “Ein Hauch von Menschlichkeit” nicht einen Schlagzeuger dran lassen kann, der nur vom Metal kommt, ist dann gegeben. Ich such mir die Musiker unter der Prämisse, daß sie die komponierte Musik am besten umsetzen können. Es gibt gute Jazztrompeter, es gibt gute klassische Trompeter – wenn ich dem klassischen Trompeter etwas klassisches vorlege, er wird es spielen können, aber er wird es nicht mit Leben erfüllen können. So ist es schon wichtig, dann immer die richtigen Musiker zu finden. Es kann auch durchaus sein, daß man dann mitten in der Aufnahme abbrechen muß und dann sagen muß “es tut mir leid, aber ich hab nicht das Gefühl, daß du das hinbekommst, egal wie gut du sonst spielen kannst”. Aber dafür ist es dann auch mein Fehler, habe ich den falschen Mann gebucht.

Hast du das öfters gehabt, bei dem “Echos” jetzt zum Beispiel?

TILO WOLFF: Bei dem Album wenig, weil ich Gott sei Dank auf einen Pool von Musikern zurückgreifen kann, der recht groß ist und die ich sehr gut kenn. Das liegt vielleicht daran, daß ich in der letzten Zeit auf den letzten Alben sehr viele verschiedene Musiker kennengelernt habe. Aber es kam durchaus vor, also auf “Fassade”, das war der Höhepunkt, so viele Musiker wie bei “Fassade” sind noch nie nach Hause geschickt worden…

…verschlissen worden… 

TILO WOLFF: (lacht) Ja.

Die Vorabveröffentlichung der Single “Durch Nacht und Flut” zeigt den Song gleich in zwei verschiedenen Versionen, von denen die kürzere rauher erscheint und die 2., die es auch auf das Album geschafft hat, reifer, wie eine überarbeitete Fassung wirkt… 

TILO WOLFF: Das ist ja interessant. Das ist genau umgekehrt. Es gab ja schon öfters auf der Single dann noch eine zweite Version, die dann meistens kürzer ist. Es ist immer eigentlich die Albumversion erst da und darum packe ich auch immer diese Version aufs Album, quasi die Mutter des Songs. Die zweite Version ist dann immer die Frage, wie kann man diesen Song auch auf eine bißchen andere Art und Weise betrachten kann. Gerade hier bei “Durch Nacht und Flut” ging es mir darum einerseits die Suche, so wie sie dann auf dem Album zu hören ist, mit all ihren Facetten – was ist, wenn ich aus der Suche eine Hetzjagd mach. So ist die kurze Version eigentlich entstanden, die wenig Zeit zum Atmen läßt, die, wie du richtig sagst, brutaler, rauher rüber kommt, die einfach eine andere Facette dieser urspünglichen Idee darstellt…

Gibts von den Stücken eigentlich auch immer nur die Albumversion oder auch andere Varianten?

TILO WOLFF: Ne, es gibt immer nur die Albumversion. Mit ein Grund was dazu führt, zu entscheiden, welcher Stück die Single wird, ist die Frage, was passiert mit dem Song, wenn ich anders heran gehe. Es gibt den einen oder anderen Song, bei dem es mich wirklich interessiert, eine zweite Version zu machen. Das ist mit einer der Entscheidungsgründe überhaupt zu sagen, das könnte die Single werden, weil ansonsten die zweite Version gar keinen Sinn machen würde. Es gibt andere Titel wie zum Beispiel “Sacrifice” oder vom letzten Album “Warum so tief” oder eigentlich alle übrigen Titel, die keine zweite Version zumindest für mich in der momentanen Zeit zulassen würde oder es auch keinen Grund für eine zweite Version geben würde, weil die genauso sein müssen, wie sie sind. Jede Note, jedes Wort ist essentiell.

Das ist ja auch manchmal mal genau das Problem im Studio. Wir hatten gerade eben dieses Musikerproblem. Wenn es um essentielle Passagen geht oder überhaupt um Passagen geht, die nicht einfach zu spielen sind und der Musiker bekommt es nicht hin, dann kann man natürlich sagen: “Es geht schneller, wenn er es trotzdem spielt. Er spielts ja richtig, aber er spielt es nicht so emotional. Laß uns das aufnehmen. Zack. Nächstes.” Aber genau das darf nicht passieren, weil dann verliert die Musik an Seele, zumindest für mich und ich würd noch in 10 Jahren hören, das ist dann nicht 100 %.

Auf den Singles gibt es auch Versionen von anderen Gruppen, die deine Stücke remixt haben. Für Musiker ist es ja immer spannend zu sehen, was andere mit den eigenen Liedern anstellen, welche neuen Facetten sie einem Song geben können, was sie dabei herausholen. Hat die Interpretation deiner Stücke durch Dritte in irgendeiner Weise deinen Stil beeinflußt?

TILO WOLFF: Das überhaupt nicht. Aber wie du sagst, es ist sehr interessant zu sehen, was die anderen daraus machen. Wobei mir da auch ganz wichtig ist, es gab viele Diskussionen über diese Remixe. Es ging sogar soweit, daß der eine oder andere Lacrimosa-Hörer gesagt hat, die Band ist für mich gestorben, weil die haben meinen Lieblingssong versaut. Nicht zu wissen oder nicht zu merken, daß

a) das andere Bands sind, die einen Remix machen, daß wir in diesem Moment gar nichts mehr damit zu tun haben, daß wir rein die Bänder rausgeschickt haben, daß heißt, wir haben nichts getan sozusagen; (lacht)

b) ein Remix die Originalversion ja nicht löscht. Die Originalversion ist nach wie vor da. Ganz im Gegenteil, wenn wir sagen, es wär interessant mal einen anderen Künstler darauf anzusetzen, dann heißt es umso mehr, daß uns der Song sehr nahe ist oder sehr viel bedeutet. Ich mein, du kannst Dich nur mit etwas befassen, was dir etwas bedeutet. Natürlich bedeutet uns jeder Song etwas, aber es gibt halt so einige Songs, wo man, wie ich auch grad eben gesagt hab, dann auch manchmal selber sagt, ich möchte eine andere Herangehensweise finden. Eben. Und von dem her ist es klar keine neue, ersetzende Version, sondern eine zusätzliche Version.

Und wenn man damit halt nichts anfangen kann, ist es ja nicht schlimm, dann kann mans ja ausmachen. Beeinflussen können oder haben mich diese Versionen oder andere Künstler in so einer Zusammenarbeit oder Arbeit nicht, da sie komplett eigenständig dann arbeiten. Sie kriegen die Bänder zugeschickt, aber was dabei herauskommt, da habe ich keinen Einfluß drauf. Wenns mir nicht gefällt, veröffentliche ich es nicht, logisch. Ich suche mir Bands aus oder Anfragen von Bands beantworte, darauf eingehe, wenn es Gruppen sind, die musikalisch eher ein bißchen weiter weg sind von Lacrimosa und deren Musik ich auch jetzt nicht zwangsweise gigantisch finden muß.

Es gibt auch Künstler, die mich remixt haben, von denen habe ich nicht eine Platte zuhause stehen. Ich würde es mir privat nicht anhören, was die alleine machen, aber ich finde es interessant, was passiert, wenn die mit meiner Komposition spielen. Das ist wie im Grunde genommen eine Abhandlung über einen Text, den man zum Beispiel geschrieben hat, zu leben von einem Schriftsteller, den man selber nicht lesen würde. Aber es ist interessant die Abhandlung zu lesen, weil er eine ganz andere Betrachtungsweise hat…

Das neue Album “Echos” verhielf Lacrimosa vier Wochen lang in den offiziellen deutschen Longplay Charts zu bleiben und dabei bis auf Platz 13 vorzustoßen. Das Album steht in der Tradition bisheriger Veröffentlichungen. Dem Gesang wird bei Lacrimosa wie schon zuvor stets ein besonderer Stellenwert eingeräumt – an einem instrumentalen Stück, wie gerade einmal auf dem ersten Album enthalten, oder gar einem ganzen instrumentalen Album hätte Tilo Wolff auch gar kein Interesse…

TILO WOLFF: Es wär für mich wie ein Album, eine CD ohne Cover. Es würde eine Komponente fehlen. Für mich ist Lacrimosa auf drei Säulen gestützt: Text, Musik und Artwork. Nimmt man eine der Säulen weg, stimmt für mich das Konzept von Lacrimosa nicht mehr. Ich höre mir gern Instrumentalstücke an, ich hör mir auch gern komplett andere Musik als Lacrimosa an, aber das heißt nicht, daß es für mich Sinn machen würde, so etwas selber zu tun.

Du hast den Album dem Titel “Echos” gegeben. Mit Echos habe ich Assoziationen an ein feedback, an etwas bereits existentes, vielleicht auch an eine Erinnerung, halt eben an etwas, was schon einmal dagewesen ist. Es trägt nicht den Geschmack von etwas neuem auf der Zunge… Wie kommst du ausgerechnet auf diesen Titel? Ist es ein Schritt zurück, ein Rückblick vielleicht? 

Lacrimosa Tilo Wolff Anne Nurmi Echos TILO WOLFF: Jein. Es sind verschiedene Aspekte. Teilweise hast du auch absolut Recht mit deiner Mutmaßung. Du hast das Wort Erinnerung grad benutzt. Ich war urspünglich, bevor ich “Satura”, das dritte Album, gemacht hatte – man plant ja manchmal, was bei Lacrimosa selten funktioniert, weil ich ja nicht weiß, inwieweit ich mich entwickel – der Meinung, daß das dritte Album nach “Einsamkeit” “Erinnerung” heißen würde. Es gibt dann ja auch den Titel “Erinnerung” auf dem Album “Satura”, ich dachte aber, da würde noch viel mehr in dieses Konstruktum passieren, was dann nicht passiert ist und darum hat dieses Album den Titel auch nicht bekommen, aber das ist ein Thema, was mich immer beschäftigt, weil jeder Einzelne von uns ein Produkt seiner Erinnerung, seiner Vergangenheit ist.

Wir sind ein Produkt der Familienverhältnisse, der Kultur, in die wir hineingeboren wurden, der Erlebnisse, die wir hatten… All das hat uns geprägt und hat uns geformt und zu dem gemacht, was wir heute sind. Die Entscheidung, die ich zum Beispiel heute treff, ist geprägt von diesen Echos der Vergangenheit und wird mein zukünftiges Leben verändern. Wenn wir beide vor identisch die selber Entscheidung jetzt gestellt würden, würden wir komplett unterschiedlich entscheiden und jeder würde meinen, er hätte richtig entschieden, weil wir uns auf unseren background und wie wir denken und empfinden, stützen. Unser Leben würde sich komplett anders jetzt entwickeln, das heißt die Echos der Vergangenheit bestimmen das, was ich heute tu und begegnen mir morgen wieder als Echos der Vergangenheit.

Das was ich heute sage, ergibt wieder ein Echo, das ich morgen höre. So ist es im Prinzip auch zu sehen als zweiter Punkt – ich habe angefangen irgendwann einmal Musik zu machen und habe damit etwas ausgerufen, was jetzt als Echo wiederhallt. Es stimmt, ich sehe “Echos”, dieses Album, nicht als Resumee aber als sehr typisches Lacrimosa-Album. Es sind sehr viele Elemente in diesem Album wiederzufinden, die Lacrimosa ausmachen. Allein schon die Art und Weise, wie ich es geschrieben habe, diese Unbefangenheit, wie ich mit Lacrimosa auch angefangen habe, all das zeichnet dieses Album aus. Bei all dem darf ich sagen, das sind Echos, die mir aus meiner eigenen Vergangenheit entgegenschlagen. Ich hab zum Beispiel Riesenfreude, meine alten Alben anzuhören. Das ist eine wunderschöne Sache und diese Echos, die möchte ich gerne hören.

Und im dritten “Echos”, weil wir mit den Instrumenten, wir hatten vorhin die Gamben angesprochen, soweit zurückgegangen sind. Es gibt z.B. den Titel “Malina”, wo ein Spinett, eine traditionelle Rockband, ein Quintett und loops zu hören sind. Das sind Stilelemente aus verschiedensten musikalischen Epochen, alle vereint in einem Lied. Wenn man jetzt z.B. das Spinett oder irgendein Element herausnimmt, würde der Song in sich zusammenfallen, d.h. er trägt sich nur durch die Echos aus der Vergangenheit. Dadurch, daß diese Instrumente nicht verlorengegangen sind, daß wir die immer noch kennen dürfen, trägt sich dieser Titel, ernährt sich von den Echos und wird wieder neue Echos ausrufen. Das alles zusammen würde ich unter diesem Titel “Echos” fassen.

Die einzelnen Lieder auf “Echos” tragen ja alle einen Untertitel, die das Album in verschiedene Themenbereiche aufteilt. So trägt der Song der Vorabsingle auf dem Album den Untertitel “Suche (part 1)”, wobei “Ein Hauch von Menschlichkeit” den zweiten Teil darstellt. Standen die Themen vorab fest, quasi ein Konzept für das Album oder passten die Stücke nur jeweils gut zusammen?

TILO WOLFF: wenn überhaupt, dann eher zweiteres. Ich mag dieses Wort Konzeptalbum nicht so gern, das klingt so kopflastig. Es ist tatsächlich nicht so, daß ich mich hingesetzt und ein Kozept geschrieben habe. Dadurch, daß das Album in einer relativ kurzen Zeitspanne geschrieben wurde – direkt nach Beendigung der “Fassade”-Welttour, wo wir zurückgekommen sind. Normalerweise bin ich konstant am komponieren, es ist zu einer Art Lebenselexier von mir geworden. Ich setze mich also nicht hin und schreibe ein Jahr Pause und mache dann ein Jahr Pause. Während dieser sehr langen “Fassade”-Tour hatte ich keine Gelegenheit zu komponieren.

Als ich zurück kam, ist dieser Drang, dieser Wunsch zu komponieren, so dermaßen über mich eingebrochen, daß ich mich einfach nur dem hingeben mußte ohne mir jetzt irgendwelche Gedanken zu machen, in welche Richtung es geht, es ist ein sehr entspanntes Album geworden. Ich habe auch als ich angefangen hab an diesem Album zu schreiben gar nicht gemerkt, daß dies ein Album mal sein könnte, ich habe einfach nur geschrieben. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo ich gedacht hab, ich muß jetzt ins Studio gehen, weil wenn ich jetzt nicht ins Studio gehe, dann verlasse ich so langsam diese Gefühlswelt, in der ich die letzten Songs geschrieben habe, dann müßte ich das neu aufbereiten, das ist unsinnig. Ich war dann im Studio und dort ist das Album zu einem Album erst geworden.

Da ist mir erst aufgefallen, daß diese Songs einen Zusammenhalt untereinander haben und daß es in sich abgerundet ist, daß da gar nichts mehr folgen darf, sondern daß es ein fertiges Album ist. Erst im Studio merkte ich, daß es ein Album ist. Ich habe die ersten Platten immer nur so aufgenommen: Song geschrieben, Studio, Song geschrieben, Studio und irgendwann gesagt, die Songs kommen zusammen auf eine Platte. Das habe ich sehr lang fortgeführt, bis “Elodia”, das war das erste Album, das ich in einem Stück aufgenommen habe. Hier dachte ich jetzt auch wieder, das würde nur stückchenhalber.

Die Art und Weise wie die zusammenhängen, der Grund, warum Suche (part 1) nicht gefolgt ist von Suche (part 2)… Wenn man davon ausgeht, daß man seinen Gegenüber nur lieben kann, wenn man sich selbst ein Stück weit liebt; wenn man seinen Gegenüber nur verstehen kann, wenn man sich selbst versucht zu verstehen; und daß man Situationen, in die man im Leben hineingestellt ist, nur ergründen und dadurch auch meistern kann, wenn man sich selbst ein bißchen begreift und auch weiß, warum man in gewissen Situationen wie reagiert…

Dann muß man ja theoretisch in sich selber eine Suche starten – das wäre “Durch Nacht und Flut”, eine sehr vehemente Suche für mich, ein sehr auch positiver Song dahingehend, eine Suche birgt ja auch immer ein gewisses Risiko in sich… Ich möchte niemals der Mensch sagt, “ich weiß weiß nicht, was ich find, also begeb ich mich nicht auf die Suche”, sondern ich möchte losmarschieren, getreu was ich damals in “Der Kelch des Lebens” geschrieben habe (“es ist der Traum der mich geführt und folgen werde ich bis in die Glut”) – ich muß meinen Träumen, meinen Hoffnung folgen, auch wenn sie mich verbrennen werden.

Zu den Liedern der Suche habe ich mich gefragt, wonach Du eigentlich suchst… Das wird beim Hören der Songs nicht so recht deutlich. Existiert etwas konkretes, also ein bestimmtes Ziel der Suche, oder ist die Suche eher ein Selbstzweck, quasi die Suche als Weg an sich? 

Lacrimosa Tilo Wolff Anne Nurmi Echos TILO WOLFF: Es ist die Beschreibung einer Suche zunächst mal, einer Fragestellung – “doch finde ich wirklich, was ich suche?” Die Suche nach Wahrhaftigkeit, nach Kontakt zu den tiefsten Gefühlen und zu den Ursprüngen dieser Gefühle. Es gibt zu viele Symptombehandlungen heutzutage, keine Ursachenbekämpfung mehr. Die Ursachen kann ich nur bekämpfen, wenn ich sie finde – in mir. Es ist eine Suche nach der Kraft Hoffnung zu finden, um mich wieder auf eine Suche begeben zu können. Es ist die Suche nach der Energie, lauthals rausrufen zu können “ich mach mich auf eine Suche” – und es auch durchzuziehen. Es ist die Suche nach der Kraft, z.B. so ein Album aufzunehmen.

Es sind sehr viele verschiedene Facetten – ich kann und möchte bei so einem Album nicht so sehr ins Detail gehen wie bei einem Album wie “Fassade”, wo ich ganz konkret Themen anspreche. Ich möchte mit Bildern arbeiten, die dadurch eine noch größere Kraft… Ich bin ein sehr visueller Mensch, ich arbeite viel mit Bildern, ich seh wenn ich komponier, Bilder vor mir – ich sag oftmals, meine Musik ist ein Soundtrack zu einem imaginären Film. Das ist auch der Grund, warum das layout bei LACRIMOSA so einen wichtigen Bestandteil einnimmt. Wenn man dann etwas gefunden hat in sich, z.B. einen Charakterzug, mit dem man gar nicht einverstanden ist, über den man erschreckt, daß man so etwas in sich trägt, dann muß man sich auch dem hingeben, man kann es nicht wieder unter den Teppich kehren, irgendwann wird es wieder durchbrechen – dann unkontrolliert.

“Echos” weist eine klare Einteilung auf. Auf das Intro folgen jeweils ein Song zu einem Thema, dann wieder jeweils ein Song zu einem Thema in genau der gleichen Themenreihenfolge und abschließend ein Outro. Diese Albenaufteilung erinnert etwas an die bei der klassischen LP typischen Zweiteilung. Man könnte nach dem vierten Lied die Platte umdrehen und die Themen fingen wieder von vorne an… Kann man hier vielleicht eine kleine, versteckte Hommage an die alte Zeit des Vinyls erkennen? Ich weiß nicht, ob ein Großteil der Lacrimosa-Fans dies überhaupt noch mitbekommen hat…

TILO WOLFF: Das weiß ich auch nicht. Das ist eine sehr schöne Betrachtungsweise, habe ich gar nicht dran gedacht. Vielleicht ist es auch unterbewußt passiert, ich bin natürlich mit Vinyl aufgewachsen und bin nach wie vor ein großer Fan vom Vinyl. Kann durchaus sein, daß es eine unterbewußte Unterteilung ist, auf jeden Fall keine kopfmäßige, denn so habe ich das geplant gehabt, als es mir aufgefallen ist… Im Studio ist mir dieses ja erst bewußt geworden.. Jetzt nachdem man diesen Bittruf hatte, wo man festhalten möchte, was man erreicht hat, beginnt der Blick nach außen und es geht wieder von vorne los.

Die Stücke, die den Beinamen “Hingabe” tragen, wirken überraschend ruhig, wenig hingabevoll, eher distanziert. Die Distanz des Alters, der Reife im Gegensatz zur ungestümen Hingabe der Jugend? Hättest Du Stücke mit diesen Titeln früher vielleicht enthusiastischer geschrieben? 

TILO WOLFF: Das kann gut sein. In gewisser Maßen ist meine Sturm und Drangzeit nicht mehr so extrem. Das hat mit Reife, Bedächtigkeit zu tun, auch damit, daß ich gelernt hab, daß Dinge, die man leiser sagt, manchmal mehr Wirkung haben können, als Dinge, die man heraussschreit. “Eine Nacht in Ewigkeit”, wo das Quintett das erste mal hereinkommt – vor ein paar Jahren wär dort Schlagzeug, Bass, Gitarre hereingekommen. Jetzt ist es sozusagen mit angezogener Handbremse das Quintett und hat eine für mich viel härtere, intensivere Aussage.

Das Bittruf-Duo hat etwas vom Flehen von unglücklich Verliebten. Ist es Absicht, dass gerade dieser Gegensatz da ist von Euch beiden, daß diese beiden Lieder jeweils von Dir bzw. von Anne gesungen werden?

TILO WOLFF: Der Gegensatz ist absolut richtig. Der Bittruf, der auch mit einer gewissen Angst verbunden ist und daher nicht von dem anderen ausgesprochen wird. Man selber hat diese Entwicklung gemacht und weiß gar nicht “ist es die Definition dessen, was ich gesucht hab?” Kann ich mich ersteinmal durch einen anderen definieren lassen? Viele warten darauf, da sie selber vielleicht Angst davor haben oder aus einer gewissen Eitelkeit heraus, sie können oder wollen es nicht selbst. Der zweite Bittruf, der von beiden kommt, wenn man es wörtlich als Bild übernehmen könnte, sitzen sie sich beide gegenüber und der Blick hinaus, wo sie sich beide gegenseitig beäugt haben, daß sie beide diesen Bittruf angehen können, umso vehementer, da mit vereinten Kräften.

Das Album mit einem über 12 minütigen Intro mit nur spärlichem Gesang (zwei Worte) hebt sich von den vorangegangenen Alben, die viel schneller zur Sache kamen, ab. Meintest Du, dass der Hörer für “Echos” eine besonders intensive Einstimmung braucht? 

TILO WOLFF: Ich seh die Ouverture als Eingangshalle, wenn man das Album wie ein Haus betrachtet, in die man eintritt. Ich möchte, daß man sich sehr bewußt wird, wo man hier zu Gast ist und sich auch umschaut und nicht durchrennt. Ein Eintreten in eine andere Welt, gemächlicher, auf eine sanftere Art und Weise. Ich bin gespannt, wie das Publikum damit umgehen wird, weil es ja ein nicht sehr populärer Gedanke ist, ein Album mit einem orchestralen, fast dreizehnminütigen Werk zu beginnen.

Das letzte Stück auf dem Album, “Die Schreie sind verstummt” trägt den Untertitel “Requiem für 3 Gamben und ein Klavier”. Wie seid ihr auf Gamben, diese nicht mehr zeitgenössischen Musikinstrumente, gekommen? Wann kam die Entscheidung für dieses Instrument, vor bzw. während des Komponierens dieses Stücks oder erst danach? 

TILO WOLFF: Wenn es fertig gewesen wär, wäre es schwierig gewesen, die Gambe mit einzubauen. Es ist im Prinzip mehr oder weniger zum ersten mal gewesen, daß ein Instrument mich gelockt hat. Bisher, wie vorhin beschrieben, ist es so, daß man eine Melodie hat und die schreit förmlich auch nach einem Instrument. Es gibt Melodien, die klingen zum Beispiel bei einem Horn wunderbar und auf einem Klavier klingen sie nichtsagend. Es gibt Musik die nur in gewissen Instrumenten ihre Schönheit entfalten. Hier war es umgekehrt, daß ich sehr fasziniert bin von diesem Instrument Gambe. Auch ein bißchen von der Geschichte, sozusagen ein halbvergessenes Instrument…

Ich finde diesen Klang sehr reizvoll und sehr passend für Lacrimosa und vor allem für diese Platte, so daß ich eigentlich vor hatte ein Interlude zu schreiben, zwei drei Minuten vielleicht maximal, um dieses Instrument mal zu spüren, zu erfassen. Wenn du für ein Instrument komponierst, läßt du dich auf dieses Instrument ein, es ist ein sehr intimer Augenblick. Das wollte ich mal mit diesem Instrument erleben. Während ich geschrieben hab, sind so viele Gefühle in mir frei geworden, so viele Dinge frei gesetzt worden, daß im Prinzip “Die Schreie sind verstummt” aus mir heraus gesprudelt ist. Auch dieser Text, das war zum Beispiel so ein Titel, wo, wie ich vorhin beschrieben habe, Musik und Text zur gleichen Zeit passiert sind. Nach diesem Heruassprudeln stand ich davor und hatte gar nicht damit gerechnet, daß so etwas passieren würde. Ich war selber etwas überrascht und erschlagen. Das sind natürlich auch sehr schöne Momente eines künstlerischen Daseins, weil man sich selber überraschen kann und weil man selber immer eine Reise antritt, von der man nicht weiß, wie sie ausgeht.

Eigentlich ist dieser Untertitel ja ein Etikettenschwindel. Man vermutet jedenfalls weder Gesang, noch Gitarre oder gar Schlagzeug, die ja bei “Die Schreie sind verstummt” zum Einsatz kommen. Warum also dieser Untertitel? 

Lacrimosa Tilo Wolff Anne Nurmi Echos TILO WOLFF: Ach so. Naja, diesen Untertitel habe ich so gewählt, da die Gambe ursprünglich in der Rennaissance und später noch im Barock benutzt wurde, zu einer Zeit im Einsatz, in der Musikwerke so betitelt wurden. Ein “Duett für Violine und Klavier” kann ein ganzes Synphonieorchester beinhalten, Focus ist einfach die Violine und das Klavier was noch nebenbei begleitet ist. Wenn man sich ein Cellokonzert anhört zum Beispiel, hat man auch nicht nur ein Cello oder zwanzig Celli die miteinander spielen, sondern man kann durchaus auch ein ganzes Synphonieorchester oder lange Klavierpassagen haben. Damals hat man sich gesagt, man kann nicht jedes Instrument aufzählen, das wären zu viele zum Aufzählen. Man bezeichnet die Titel nach den Instrumenten, die im Focus stehen. Auch wenn es nicht mehr modern ist, Titel so zu bezeichnen, es ist genausowenig modern, vierzehn oder dreizehnminütige Lieder zu machen oder Gamben zu verwenden. So eine Bezeichnung hat Stil. (lacht)

Was bedeutet für dich Stil? 

TILO WOLFF: Das ist sowieso etwas. Heutzutage wird Stil oftmals verwechselt, daß es pathetisch rüberkommt oder daß es schwülstig verstanden wird. Stil, eine schöne Tugend, ist mehr und mehr verloren gegangen und ich finde es eigentlich schön, wenn man das aufrecht erhalten kann, wenn man für sich selbst, in seinen Umfeld und für seine Mitmenschen das in irgendeiner Form die für einen tragbar und die für einen genießenswert ist, aufrecht erhalten kann. Stil ist eine sehr schöne Sache. Allein schon im Umgang mit dem Gegenüber. Wenn man heutzutage Menschen zuhört im Gespräch, merkt man, da sitzen sich zwei Menschen gegenüber, die nur ihre eigene Story erzählen wollen aber gar nicht zuhören.

Während der eine redet, überlegt der andere schon wieder, was er dagegen sagen könnte ohne zuzuhören. Das ist eine Frage von fehlendem Stil. Sowas finde schade, daß es verloren gegangen ist. Ich möchte mit meiner Musik dem geneigten Ohr, dem geneigten Menschen auch ein bißchen von diesem Stil zurückgeben. Wer so etwas mag, dem soll Lacrimosa, wie auch auf vielen anderen Ebenen auch, in dem Sinne eine gewisse Plattform bieten. Da ist es mir ehrlich gesagt dann auch ziemlich egal, was dann andere da drüber sagen, die diesen Stil offensichtlich nicht mehr so hochhalten.

Eine Wertediskussion in musikalischer Hinsicht? 

TILO WOLFF: Ja, im Prinzip, das sind sowieso Dinge, wo man sich jetzt stundenlang verlieren könnte, da muß man natürlich auch aufpassen. Musik ist ja nicht nur die paar Töne die man hört. Musik passiert ja eigentlich hauptsächlich zwischen den Zeilen, in den Gefühlen, die ausgelöst werden, in den Emotionen, die transportiert werden.

Wird Lacrimosa mit dem Album wieder auf Tour gehen? Termine wurden noch nicht genannt… 

TILO WOLFF: Es wird keine Tour, keine Konzerte geben in 2003, das hat folgenden Grund. Ich habe im Sommer 200 angefangen, “Fassade” zu schreiben, hab 6 Monate das Album produziert, war dann auf ausgedehnter Welttour, dann habe ich dieses Album geschrieben, 4 Monate aufgenommen und das alles ohne Unterbrechung.

Jetzt brauch ich Zeit, um meine Batterien wieder aufzuladen. Wenn ich jetzt auf die Bühne gehen würde, könnte ich maximal 70 Prozent geben und damit würde ich niemanden einen Gefallen tun. Man wird sehen, ob ich das ein ganzes Jahr durchhalte, aber Lacrimosa auf die Bühne zu bringen, erfordert eine ganze Menge Vorarbeit, ich muß die Musiker auswählen, die Titel für Bühnenpräsentation umschreiben, eine Bühnenproduktion planen, diese Vorarbeit werde ich in absehbarer Zeit nicht leisten können und daher wird’s zu 99 % geben, wahrscheinlich erst zum nächsten Album.

 

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2003 (c) kleinertod.de 

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